«Die Fruchtblase platzt»:
Der erste Satz meines ersten Romans beschreibt eine Geburt. Die erste Frage im Zusammenhang mit diesem Buch war, ob ich selber Kinder habe, ich würde das Stillen so authentisch beschreiben.
Überhaupt bin ich in der kurzen Zeit, seit das Buch erschienen ist, schon einigen Fragen nach dem Autobiografischen begegnet. Das hat mich zwar nicht überrascht, nur scheinen mir die biografischen Eckpunkte meines Lebens nicht weiter interessant, vor allem nicht, solange sie isoliert und ohne weitere Bezüge dastehen. Dass ich auf einem Bauernhof aufgewachsen bin und Kühe melken kann, mag eine nette Anekdote sein, zumal ich heute keine Milch mehr vertrage – aber über mich oder mein Buch sagt das nichts aus.
Natürlich prägen biografische Gegebenheiten einen Menschen. Nur wird die Bedeutung dieser Eckpunkte erst greifbar, wenn sie in Bezug gesetzt werden zur Umgebung, zu den Verhältnissen, in denen ein Mensch lebt, und wenn dieser Mensch wiederum in Bezug gesetzt wird zu anderen Menschen, zur Zeit, in der sich das erzählte Leben abspielt, zur Weltgegend, wo ein Leben stattfindet.
Auch glaube ich, dass man nur über Dinge schreiben kann, die man kennt. Wer sich aber beim Schreiben nicht langweilen will, kann gar nicht anders, als einzubeziehen, was um sie herum geschieht, geografisch, gesellschaftlich und historisch. Das Erzählte muss keineswegs privat sein, es kann Erfahrung ebenso wie Erfahrenes sein. Und deswegen gibt es in meinem Buch nebst jener Figur, die ungefähr das gleiche Geschlecht und Alter hat wie ich, noch einige weitere Figuren, einen alten Mann etwa, oder ein Kind – und ein Kind war ich seinerzeit selbst.
Ich behaupte also das Stillen, und ich behaupte auch, dass wir alle die Fähigkeit haben, uns lebhaft und emphatisch in andere hineinzuversetzen. Das lässt sich daran zeigen, wenn ich beschreibe, wie wir uns in der Kindheit auf dem Bauernhof jeweils steif wie ein Brett in den Heuhaufen fallen liessen und dabei einmal die Heugabel übersehen haben, die sich dem Nachbarsjungen ins Auge gebohrt hat.
Kurz nachdem mein Buch erschienen ist, ist mir eine Nachricht zugestellt worden von einer Frau, mit der ich vor über 25 Jahren zur Schule gegangen bin. Sie hat mir zum Buch gratuliert und angefügt, wie unpassend es sei, dass ich über Beziehungen schreibe, wo ich doch mit meiner eigenen Schwester keine gute Beziehung habe. Und dass die Medien besser darüber berichten sollten.
Ob sie das Buch gelesen hat, weiss ich nicht, ich weiss nur, dass es meine Schwester gelesen hat, weil sie mich nach der Lektüre gefragt hat, ob ich denn wisse, dass sie unsere Hasen auch immer an den Ohren herumgetragen habe. Wie auch immer: Wer mich ein bisschen kennt, weiss, dass ich nicht eine Schwester habe, sondern drei, auch zwei Brüder.
Schreiben ist letzten Endes viel persönlicher als das, was man gemeinhin als Privatsphäre oder auch das Biografische bezeichnet. Ohne meinen Blick auf das, worüber ich schreibe, preiszugeben, kann ich nicht schreiben. Ich muss, wenn ich schreiben will, offenbaren, wie ich, Pünktchen, das ich bin, von meinem Flecklein aus, an dem ich stehe, die Welt sehe. Ich öffne Herz und Hirn und alle können hineinschauen, ohne, dass das Umgekehrte auch der Fall wäre.
Ich wurde auch gefragt, wie ich zur Literatur gekommen sei. Ich bin in einer Freikirche aufgewachsen, einer Welt, in der es keinen Fernseher, kein Radio, auch kein Kino gab. Aber es gab Bücher, und die habe ich verschlungen, mich damit zurückgezogen und mir so eine Welt ausserhalb des gegebenen Rahmens erschlossen, und zwar, wie ich glaube, ohne, dass jemand meine Weltflucht bemerkt hätte.
Als ich etwas älter wurde, habe ich angefangen, nach Büchern zu suchen, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen, habe «Oranges are not the only fruit» von Jeanette Winterson gelesen oder «Unorthodox» von Deborah Feldman, das mich wie ein Blitz getroffen hat. Noch nie hat mich ein Buch so sehr an meine eigene Kindheit in einem 250-Seelen-Dorf erinnert. Die Angst, die Feldman beschreibt, jemand könnte sie dabei beobachtet haben, wie sie zum ersten Mal in ihrem Leben in Manhattan ins Kino gegangen war, erkannte ich.
Noch viel mehr als bei der Lektüre dieser Bücher ist mir beim Erscheinen meines eigenen Buches bewusst geworden, wie viel man tatsächlich von sich preisgibt, wenn man schreibt. Ein Roman ist eine erfundene Angelegenheit, und trotzdem fliesst ungeheuerlich vieles von dem, was man in seinem Leben gelesen, gesehen und erlebt hat, in einen Text ein. Und seien es nur die Muster, wie man die biografischen Eckpunkte seiner Figuren mit deren Umgebungen und Verhältnissen verknüpft.
Und manchmal ist mir deswegen, seit das Buch erschienen ist, genauso bang wie damals, als ich mich das erste Mal wieder daran machte, eine Kuh zu melken, nachdem mir beim letzten Mal eine andere Kuh den fast vollen Eimer mit einem einzigen, freilich unbeabsichtigten Tritt umgestossen hatte. Die ganze Milch war verschütt gegangen und ins klein gehäckselte Lägerstroh geflossen, dabei hatte meine Grossmutter mir versprochen, dass wir daraus Schokoladenpudding kochen würden.
Postskriptum: Vor kurzem bin ich auf das Buch «Die Geschwinde Reise auf dem Lufft-Schiff nach der obern Welt» von Eberhard Christian Kindermann aus dem Jahr 1744 gestossen. Darin unternehmen fünf Personen die Reise von der Unter- nach der Oberwelt und landen auf dem Mond des Mars. In paradiesischer Umgebung werden sie von den Bewohnern wie Götter empfangen, müssen aber bald der Tatsache ins Auge sehen, dass sie in der Hierarchie des Universums ganz unten stehen, weil die Menschheit über den Sündenfall gestolpert ist.
Genau mein Humor.
Der Titel dieser Carte blanche ist ein Zitat von der Schriftstellerin Aglaja Veteranyi.
Lesungen
Fr, 17.5., 19.30 Mühlekeller Museum Ronmühle Schötz LU
So, 19.5., 19.00 Junkerngasse 35 Bern (Sofalesung)
Fr, 24.5., 19.30 Buchhandlung Bodan Kreuzlingen TG
Tabea Steiner
Die 1981 geborene Tabea Steiner ist auf einem Bauernhof in der Ostschweiz aufgewachsen. Sie hat Germanistik und alte Geschichte studiert und ist heute als Literatur-Veranstalterin und Autorin tätig. Im Frühjahr 2019 ist ihr erster Roman «Balg» (Edition Bücherlese) erschienen, in dem sich der Traum vom Landleben für eine Familie als Illusion entpuppt. Tabea Steiner lebt in Zürich.