Kommunenleiter Wang fordert Frau Jiang auf, einer Gruppe erschöpfter Kinder «von ihrem ärmlichen Leben vor der Befreiung zu erzählen und ihr gutes Leben in der neuen Zeit zu schildern». Doch die Dame patzt und berichtet, was sie wirklich bewegt: der Hungertod ihres Sohnes, der «dürr wie ein Strickfaden war». 1962 sei das gewesen, in den letzten Momenten der grossen chinesischen Hungersnot, die bis zu 40 Millionen Tote forderte.
Der Parteikader fährt der weinenden Frau über den Mund: So etwas kann es im fortschrittlichen sozialistischen China nach der Befreiung überhaupt nicht gegeben haben! Sie soll doch nun aufrichtig von ihrem glücklichen Leben im neuen China erzählen.
Eine Kindheit während der Kulturrevolution
Leugnung, Denunziation, Massensterben und mörderisches Chaos: Wei Zhangs Erstlingsroman «Eine Mango für Mao» erzählt die Geschichte der fünfjährigen Yingying, zur Zeit der sogenannten «grossen proletarischen Kulturrevolution». Yingyings Leben spielt sich in der kleinen Wohnung der Familie und auf dem Schulhof ab. Das Kind schaut neugierig auf die Erwachsenen und erlebt solche Ungerechtigkeiten und Absurditäten wie die «lehrreiche Lektion» mit Frau Jiang.
Die Autorin lebt seit 1990 in der Schweiz und arbeitet als Publizistin, Sprachlehrerin und Übersetzerin. Zwar sei «Eine Mango für Mao» nicht autobiografisch, so sagte die studierte Anglistin der NZZ. Doch natürlich schöpfe sie aus ihren Erfahrungen und schaue auf ihre Kindheit zurück. Der Roman spielt im südwestlichen Chongqing, ihrer eigenen Geburtsstadt.
Die während der Kulturrevolution aufgewachsene Autorin sah erstmals als zehnjähriges Mädchen eine Banane. Irritiert von der unbekannten Frucht habe sie diese wie ein Baby gewickelt – eine Schlüsselszene. Als Yingying im Roman zum ersten Mal in ihrem Leben eine Banane gezeigt bekommt, erklärt man ihr geheimnisvoll: «Zuerst muss sie noch in eine Decke gewickelt einige Wochen unter deinem Bett schlafen.» Erst wenn sich ihr Mantel gelb verfärbt habe, dürfe sie die Banane essen. Als sich der ungewohnte Geschmack auf ihrer Zunge ausbreitet, will das Kind in den Süden ziehen, um viele Bananen essen zu können. Die Protagonistin ahnt in diesem zarten Alter, dass eine andere, sattere Welt möglich ist.
Die Ära von Mao wirkt bis heute
In der Schule bekommt Yingying Maos «neues China» mit voller Wucht zu spüren. Im politischen Klima der 60er- und 70er-Jahre kann jede noch so minimale Abweichung von der Staatsdoktrin verheerende Folgen haben. Was vorher zum Alltag gehörte – etwa Haustiere –, gilt nun als «konterrevolutionär».
Sprachlich wirkt der Roman gelegentlich aufgesetzt poetisch. «Ich würde frei im Wind flattern wie die an Bambusstangen unter dem Dachvorsprung zum Trocknen aufgehängte Wäsche», heisst es etwa. Doch der Autorin gelingt es, die Verbrechen des Regimes durch die Augen eines Kindes näherzubringen. Wer das heutige China verstehen will, sollte Wei Zhang lesen. Die Kluft zwischen Arm und Reich, die Wertekrise der Gesellschaft, die eiserne Regierung – all das geht auf die Ära Maos zurück.
Buch
Wei Zhang
Eine Mango für Mao
288 Seiten
(Salis 2018)