«Dr Winter – isch es Gschwür! Hät ADS! Isch voll Opfer! Isch Hitler! Isch schwul! Nai, isch voll hetero!» Gegenseitig übertrumpfen sich die sechs Jugendlichen in ihren Beschimpfungen über den Winter. Im Stück «My only friend, the end» geht der Sommer bald zu Ende, und die sechs Urschweizer Freunde wollen an der Bahnlinie des Gotthard-Tunnels noch einmal ihre Freiheit und Jugend feiern. Sie hängen rum, rauchen Gras, trinken, blödeln und machen ein paar lockere Sprüche über ihre Zukunft – alles ist möglich, alles ist offen, ob Rockstar oder CEO. Wer weiss schon, was die Zukunft bringt?
Einer fehlt in der Runde
Doch zwischen all den gegenseitigen Frotzeleien schwingt Trauer und Ratlosigkeit mit. Denn einer fehlt im Freundeskreis: Luca. Aus dem jugendlichen Weltschmerz gab es für ihn nur einen tödlichen Ausweg auf den Bahngleisen. Die Erwachsenen im Tal schweigen sich aus über den Suizid. Auch die Jugendlichen wagen sich erst nach und nach an das Thema, umkreisen es mit ihren Sprüchen, bis sie sich den Verlust eingestehen und schliesslich von der Trauer in die Wut wechseln – Wut über das Schweigen, über die Schuldgefühle, über die Ungerechtigkeit, die verzweifelte Suche nach einem Grund.
Martina Clavadetscher wagt sich mit ihrem neuen Stück an ein heikles Thema, das heute noch oft ein Tabu ist. «Im Theater interessieren mich die Leerstellen», sagt sie bei einem Kaffee in der Kantine des Luzerner Theaters. «Auch im aktuellen Stück ist etwas passiert, über das im Dorf nicht gesprochen wird oder Halbwahrheiten kursieren. Diese Leerstellen werden im Gespräch unter den Jugendlichen langsam aufgedeckt.»
Die 34-jährige Autorin hat ihre Jugend selbst im schwyzerischen Brunnen verbracht, wo das Stück spielt. Sie ist in diesem «idyllischen Postkartenpanorama» behütet aufgewachsen. Hier haben die jungen Menschen scheinbar alles, was sie zum Leben brauchen – und neigen irgendwann doch zum Rebellentum und zum Ausbruch, wenn die Berge ringsum zu eng werden. «Mit der Zentralschweiz verbindet mich eine Art Hassliebe», sagt Clavadetscher. «Manchmal ist es mir fast zu schön und zu perfekt hier, und ich verspüre die Sehnsucht nach dem Ausbruch.» Dennoch lebt sie nach Aufenthalten in Deutschland mit ihrer Familie nun wieder in Brunnen – «unter dem Vorbehalt, dass ich jederzeit gehen kann».
Unfall oder Suizid?
Auch zum Thema Jugendsuizid hat sie Erinnerungen an früher. Sie hat ein paarmal erlebt, wie junge Männer im Dorf auf den Schienen umgekommen sind – selten war klar, ob es ein Unfall aus jugendlichem Leichtsinn oder ein Suizid war. Diese Erfahrungen bringt sie in ihren Text ein. Dazu hat sie zahlreiche Berichte über Ursachenforschung und Prävention gelesen und sich mit Erlebnisberichten von verwaisten Eltern befasst.
Entstanden ist aber kein theoretisches Dokumentartheaterstück, sondern eine packende Geschichte zwischen Mundart und Hochdeutsch. In Rhythmus und Sprache ist sie nahe dran an der Jugend.
Abschiedsyhmne
Das Schauspielteam besteht aus fünf Frauen und einem Mann zwischen 17 und 21 Jahren, die bereits im Jugendprojekt «Playstation» Bühnenerfahrungen gesammelt haben. Als textlichen Soundtrack hat die Autorin «The Doors» gewählt. In Zeiten von Lady Gaga und Co. zwar nicht besonders aktuell. «Aber es erinnert mich an meine eigene Jugend im Talkessel. Und zudem passt die düstere Abschiedshymne ‹The End› mit der Affinität zu Tod, Abschied, Grenzüberschreitung und der Suche nach Ausbruch bestens zum Thema. Sie widerspiegelt eine Stimmung, die sich aufs Heute übertragen lässt.»
Als Kontrast zur Musik aus den 60ern steht die Klangwelt von Isa Wiss: Die Sängerin hat sich zusammen mit den Jugendlichen musikalisch ausgetobt und mit Stimmen und Geräuschen experimentiert. Entstanden ist eine Klangwelt, die an Schweizer Urklänge und Volkslieder erinnert, und in das Stück rund um die Themen Freundschaft, Suizid und Heimat einfliesst.
Für die Regie ist der Luzerner Samuel Zumbühl verantwortlich, der bereits die Jugendproduktionen «Superhero» und «Stiersaldvätterwee» inszeniert hat. Clavadetscher hat ihren Text vertrauensvoll in seine Hände übergeben. «Das Loslassen eines Textes gehört dazu», meint sie. Beim Probenbesuch ist sie überrascht, wie gut es das Theaterteam mit dem aus verschiebbaren Gerüsten bestehenden Bühnenbild getroffen hat: «Es erinnert mich an die Baugerüste am Gotthardtunnel, wo wir uns jeweils als Jugendliche getroffen haben.»
Gegen das Vergessen
Beim Probenbesuch klettern die Jugendlichen auf den Gerüsten herum, blödeln, lachen, lümmeln – und werden plötzlich ernst, als jemand den toten Luca und die Reaktion eines Schulkameraden erwähnt: «Er hat so getan, als hätte es ihn nie gegeben.» Dem Vergessen wollen die Jugendlichen entgegenwirken – und gebührend Abschied nehmen. Im Laufe des Abends wird dieses Abschiedsfest fast aus dem Ruder laufen. Und Jim Morrison singt dazu: «All the children are insane».
Martina Clavadetscher
Das Multi-Schreibtalent
Dramatikerin, Drehbuchautorin, Lyrikerin, Radio-Kolumnistin, Buchautorin, Journalistin: Die 34-jährige Schwyzerin Martina Clavadetscher kennt keine Schreib-Grenzen. Studiert hat sie Germanistik, Linguistik und Philosophie an der Universität Fribourg, wo sie 2004 den Literaturpreis gewann. Seit ihrem Stipendium-Aufenthalt in Berlin 2007 ist sie als freie Autorin tätig. Mehrere ihrer Theaterstücke wurden in der Schweiz und in Deutschland uraufgeführt. 2012 erhielt die Autorin den Kulturförderpreis des Kantons Schwyz für ihr «vielseitiges schriftstellerisches Talent». Im Luzerner Theater ist sie für die Spielzeit 2013/2014 als Hausautorin engagiert. Und auf Radio SRF 1 ist sie regelmässig mit der Kolumne «Apropos» zu hören. Mitte März erscheint ihre erste Erzählung «Sammler», mit der sie an die Leipziger Buchmesse eingeladen ist. Parallel dazu hat sie ein Spielfilm-Drehbuch für die Zürcher «TILT Productions» geschrieben. Es handelt von zwei Schwestern, die in einem engen Zentralschweizer Bergtal erst durch einen Fremden mit dem Tod ihrer Mutter umzugehen lernen. Ihre Heimat in der Zentralschweiz und der Umgang mit Verlust sind wiederkehrende Themen in Clavadetschers Werken. Die Autorin hat einen vierjährigen Sohn und lebt in Brunnen SZ.
Buch
Martina Clavadetscher
«Sammler»
144 Seiten
(Wallimann Verlag 2014)
Gespräch
Literatur auf dem Sofa
So, 23.3., 11.00 Kornschütte Luzern
Radio
«Apropos»
Mo, 10.3., 17.30 SRF-Regionaljournal Zentralschweiz
Aufführung
«My only friend, the end»
Premiere: Fr, 14.3., 20.00 Theater Pavillon Luzern
www.luzernertheater.ch