Theater kann die Realität abbilden, manchmal aber auch vorwegnehmen. Geradezu prophetisch mutet das Stück «Yahia Yaich – Amnesia» des tunesischen Künstlerpaars Fadhel Jaibi und Jalila Baccar an, das am Zürcher Theaterspektakel zu sehen sein wird. Es ist im Jahr vor dem Arabischen Frühling und dem Sturz des tunesischen Präsidenten Ben Ali entstanden – die tunesische Zensurbehörde hatte damals die Aufführung verboten, die Freigabe zur Premiere fand aber noch vor der Jasminrevolution statt.
Dunkle Erinnerungen
Im Stück ist es der Despot Yahia Yaich, der gestürzt wird und das Land verlassen soll. Da er keine Reisedokumente mehr besitzt, wird er unter Hausarrest gestellt – und nachdem er in vermutlich selbstmörderischer Absicht seine Bibliothek in Brand gesetzt hat, folgt die Einweisung in die Psychiatrie. Dort konfrontieren ihn Ärzte, Anwälte, Journalisten und Polizisten nicht nur mit der eigenen Seelenfinsternis, sondern mit der dunklen Geschichte seines Landes, die er zu einem grossen Teil selbst zu verantworten hat.
Die beklemmenden Szenen, die Regisseur Jaibi entwirft, fahren durch Mark und Bein. Umso mehr, als sie an aktuelle Ereignisse erinnern. Schüsse fallen auf der Bühne; die in Schwarz gekleideten Menschen zucken, rennen, drehen sich zum ratternden Techno-Beat in grotesken Bewegungen um sich selbst und bleiben schliesslich zwischen umgeworfenen Stühlen liegen. Fadhel Jaibi zerlegt das diktatorische Regime in alle Einzelteile: Korruption, Denunziation, die zensurierte Presse, brutale Polizeigewalt, Vetternwirtschaft …
Die arabische Frühlingsrevolution ist beim Theaterspektakel allgegenwärtig: Unter dem Motto «Kunst und Revolte» holt Sandro Lunin, künstlerischer Leiter des Theaterspektakels, noch weitere Produktionen aus Nordafrika und dem Nahen und Mittleren Osten nach Zürich. Die ägyptische Regisseurin Laila Soliman und der belgische Theatermacher Ruud Gielens mit dem Stück «Lessons in Revolting» sind ein weiteres Beispiel für die politische Schlagkraft, die Theater entwickeln kann.
Liebesbeweis gefordert
Harmloser mutet der zweite Theaterspektakel-Schwerpunkt «Generationen» an – Konfliktpotenzial ist aber auch hier zur Genüge vorhanden, wie etwa das deutsche Performancekollektiv She She Pop zeigt. In der Produktion «Testament», mit der es auch am Berliner Theatertreffen eingeladen war, holt es seine leiblichen Väter auf die Bühne und verhandelt mit ihnen über die Vater-Kind-Beziehung.
Für einmal steht bei She She Pop nicht die Improvisation im Vordergrund, sondern sie halten sich an eine literarische Vorlage: Shakespeares «King Lear», der sein Reich an seine Töchter vermacht und dafür einen Liebesbeweis fordert, dient ihnen als Grundlage. Das Persönliche für das Theater zu nutzen, ist ein Prinzip von She She Pop, das sie manchmal bis zur Grenze des Erträglichen ausloten. Auch in «Testament» werden die Tabus und schambehafteten Themen nicht ausgespart. «Anhand von King Lear verhandeln wir etwa die Angst vor dem Ruhestand, die Pflegebedürftigkeit im Alter, die Liebe der Kinder, das Erbe oder den Tod», erklärt Ilia Papatheodorou von She She Pop. Das verläuft manchmal ganz rational, wenn auf einem Clipboard eine Liebesabrechnung aufgezeichnet wird; manchmal aber auch sehr emotional, wenn ein Vater im Hintergrund die Popschnulze «I will always love you» krächzt. Bei allem Humor geht der Diskurs über den Generationenvertrag oft ans Eingemachte, und macht dem Publikum die eigene Vergänglichkeit und die der Eltern schmerzlich bewusst.
Erstaunlich schnell haben sich die Väter für das Experiment am eigenen Leib zur Verfügung gestellt, auch wenn es bei den Proben Schwierigkeiten zu meistern galt – zumal sich die Väter, darunter ein Germanistikprofessor oder ein Architekt, für einmal unter die Ägide ihrer Kinder stellen mussten, wie Ilia Papatheodorou erzählt. «Es fand eine Umkehrung statt. Der Vater musste mir als professioneller Theaterschaffenden Respekt zollen.» Dass dies nicht immer ganz einfach ist, zeigt der Ausspruch ihres Vaters, als es ums gegenseitige Verzeihen geht: «Ich verzeihe dir, dass du Theater als Studium und dann auch noch als Beruf ausgesucht hast», sagt er in einer Szene.
Eltern auf der Bühne
Ungeschminkte, authentische Aussagen unter den Generationen gibt es auch in der Produktion «This Is My Dad» zu hören: Der junge holländisch-israelische Autor und Regisseur Ilay den Boer befragt seinen Vater, den Performer Gert den Boer, über seinen Lebensweg und seine jüdische Identität. Und mit der britischen Künstlergruppe Quarantine kommt ein weiteres Generationen-Porträt zum Zug. In «Susan & Darren» stehen Mutter und Sohn – die Putzfrau und der schwule Tänzer – zusammen auf der Bühne.
Nebst dem explosiven Theaterstoff gibt es rund um die Zürcher Landiwiese wie immer viel Tanz, Musik, Strassenvarieté, Kunstinstallationen, literarische Spaziergänge, Diskussionen zu den Inszenierungen, Kultur für den Nachwuchs und kulinarische Genüsse aus aller Welt.