Mehrere Berge sind ein Gebirge, Gefieder sind viele Federn, und wenn von Schwestern oder Brüdern die Rede ist, spricht man von Geschwistern.
Aber was heisst Geliebter? Sind das die Leute, die jemand im Laufe der Jahre geliebt hat? Waren es viele, und deshalb GE? Sollte ich mich in jemanden oder in etwas wieder einmal verlieben, sage ich GE und alle verstehen mich?
Nein, das GE ist trickreich und schleicht sich bei mehreren Aufgaben ein, hat mehrere kleine Jobs, um überleben zu können. Am Ende ist GE ein Arbeitsloser, der nicht beachtet wird, heute praktisch nicht mehr, und mit einem gewissen Stolz auf seine Vergangenheit, mit einem gewissen verklärenden Stolz auf seine Vergangenheit, dient er mal hier, mal dort und hält sich damit über Wasser. Immerhin hat er oft gedient, hat viel geleistet, ausgerichtet, dabei viel gegessen, getrunken, getobt, gehasst, geliebt, das alles gehört in eine nahe oder ferne Vergangenheit, GE steht für die Vergangenheit, und er springt sofort geduckt herbei, falls jemand erzählen will, was er gestern getan oder nicht getan hat. Ein Alibigehilfe. Ein Wicht für Vergangenheiten.
Zum Beispiel sagt er, sein Vater sei ein geborener Arier aus Berlin. Geboren in Berlin. GE in Berlin ist die Vergangenheit des Vaters. Er wurde dort boren als GE, als Arier. Damit ist er rettet, gerettet.
Der arme Vater und das arme GE. Dieses mehrdeutige Ding, ein Clochard, der mal hier, mal dort herbeispringt. Ursprünglich hat das Wort in etwa zusammengehörig bedeutet. In der lateinischen Rückübersetzung könnte es sozial heissen oder Sozius.
Um der GE-Silbe den Rücken zu stärken, sage ich Soziusberge, Soziusrede, Soziuswasser.
Andererseits könnte man auch ohne GE auskommen. Das Wort gewinnen lässt in dieser Hinsicht tief blicken. Warum nicht einfach winnen, wie es im Englischen möglich ist? To win. Will jemand insgesamt alles gewinnen? Klammheimlich votieren heute viele für das schlichte win und sprechen deshalb oft von Win-win-Situationen.
Meinerseits bin ich dafür, dass das GE seine kleinen, nicht uninteressanten Jobs behält, das gehört zu den sozialen Verpflichtungen.
Diese Passage über das GE wird man leider in keine Sprache übersetzen können, obwohl der Urtraum für jeden die weltweite Übersetzung ist, um überall verstanden zu werden.
Eine allgemeine Gültigkeit hat aber, dass schon eine einzelne Silbe eine Menge besagen kann. Ausserdem lassen sich Silben weiter aufspalten, und ein Teil vom GE ist dann ein E, ein Element.
Natürlich könnte jemand einwenden, dass Vokale oder Konsonanten bedeutungslose Untereinheiten von Wörtern sind und damit basta.
Aber ein E oder auch ein O sind Stimmungsträger. Sie können Stimmungen bestimmen.
In diesem Sinn gibt es sogar Vokal-Gelüste. U-Gelüste nach Lust, Tumult, Fluchtpunkt, Luftzufuhr, Buchdruck. Unlust zur Zuchtkunst-Kultur, Nullpunkt.
Auch die I-Gelüste find ich nicht schlimm. Grimm ist nichtig. Und dann gibt es noch die tiefe Liebe zum A.
Am einfachsten gesagt sind alle Laute Gene. Kleinste Bausteine. Energiegeladene Voranstürmer. Sinnvolle Sprach-Gene, die etwas vorhaben, die etwas ausrichten und ausdrücken wollen. Alle Laute, sowohl mit als auch ohne. Sowohl die Mitlaute als auch die Laute ohne mit.
Dabei ist nicht nur das italienische im Gegensatz zum dänischen A erkennbar, sondern jede einzelne Stimme in Italien und in der Schweiz und überall sonst. Die Ohren erkennen sogar einzelne persönliche Stimmen. Das schaffen sie. Oh, dieses E!, denkt jemand. So spricht nur er, eindeutig nur er, denkt jemand schaudernd. Dank seinem Gehör sinkt der Jemand bei diesem E bis tief in die Kehle des E-Sagers. Oh, dieses Nachhallen der Stimme gibt es nur bei Anna Netrebko. Und das wiederum ist Caruso, ganz klar! Die Amy Winehouse, eindeutig. Elvis, unverwechselbar! Und vorhin habe ich einen Ganoven erkannt, wieder spricht er im Rundfunk! Was für ein näselndes U!
Solche hörbaren Elemente können sogar aus einem still gelesenen Text hervorspringen, falls sie vorher richtig eingefangen wurden. Die Schreibenden laufen nämlich oft mit Keschern umher und fangen ein O ein, ein langes OO oder ein Schschsch.
Für Vokalversuche und Kompositionen mit Konsonanten gibt es etliche Möglichkeiten, sie sind längst nicht ausgelotet, und es ist anregend, auf die Eigenheiten der Laute zu hören – eigentlich auf die Stimmen –, auf die Höhe und die Tiefe und die Geschwindigkeit, mit der gesprochen wird, und darauf, wie einzelne Laute verrutschen.
Solche Soundkompositionen sollten aber keiner speziellen Literaturgattung zugeordnet werden. Sie können ohne Sonderbenennung bestehen. Es gibt mehr als genug neue Gattungsbezeichnungen, und hoffentlich wird niemand A-Literaturtage und I-Lyriktage veranstalten.
Die Laute sind Gene der Sprache, und das ABC stellt die Sprach-Gene dar. Die Gen-Bausteine des Körpers wiederum werden mit Buchstaben benannt, und das ist eine gelungene Nachbarschaft.
Viele Wörter zeigen ihre alten Gene offen, Mutationen aber haben alle erfahren. Die Wörter haben sich von ihren Eltern und Grosseltern wegentwickelt, die Aussprache ist von Generation zu Generation verrutscht. Hörbar ist noch, dass das englische night mit dem griechischen nichta verwandt ist, mit der deutschen Nacht ohnehin, aber diese Nächte haben unterschiedliche Sound-Stimmungen, und unterschiedliche Längen, Tempi.
Womöglich hängt die jeweilige Aussprache der Wörter mit den Gegenden zusammen, in denen sich der Sound zu behaupten hat, und der topografische Einfluss zeigt sich manchmal ganz unmittelbar.
Vor Jahren habe ich an der Nordseeküste an einem windigen Winterabend meine Kinder zu rufen versucht. Vergebens. Die nordischen Mütter hingegen sangen die Namen ihrer Kleinen in auf- und absteigenden Tönen, sie sangen Ja-a-an, sodass tatsächlich ein Jan herbeigelaufen kam. Bei den wechselnden Tonhöhen konnte der Wind die Stimme nicht ganz verschlucken.
Hommage an Zsuzsanna Gahse an den Solothurner Literaturtagen
Sa, 1.6., 20.00 Stadttheater Solothurn
www.literatur.ch
Zsuzsanna Gahse
Geboren 1946 in Budapest, lebt die Autorin Zsuzsanna Gahse seit 1956 im deutschsprachigen Raum. Nach Stationen in Wien und Stuttgart zog sie nach Luzern und 1998 ins thurgauische Müllheim. Ihre literarische Arbeit bewegt sich zwischen Prosa, Lyrik und szenischen Texten. Gahse wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Schweizer Grand Prix Literatur 2019. Als bislang letztes Buch erschien «Siebenundsiebzig Geschwister» (Edition Korrespondenzen Wien 2017).