Meine Familie stammt von einer Pirateninsel (die Familie väterlicherseits, jene mütterlicherseits bestand aus Wirtsleuten und Bauern im Aargau, diesem schweizerischen Nebelland), der Urgrossvater war sogar ihr Bürgermeister gewesen (da waren die Piraten allerdings schon weg). Das fand ich als Kind aufregend; wer stammte schon von einer Pirateninsel im Tyrrhenischen Meer, von der einige Historiker glauben, es handle sich um Eea aus der «Odyssee», wo Circe unliebsame Ankömmlinge in Schweine verwandelt hatte? Später wurde Ustica, das die Griechen noch Osteodes, also Beinhaus, nannten, wegen der vielen Söldner, die dort gestrandet und verdurstet waren, zum Stützpunkt sarazenischer Korsaren aus dem arabischen und nordafrikanischen Raum, jahrhundertelang. 1759 gab es einen Versuch der Kolonisierung der Insel, Ferdinand III. von Bourbon liess Männer und Frauen und Kinder aus Sizilien nach Ustica verschiffen, arme Menschen, die mit Hilfe Hunderter Soldaten eine Siedlung über einer Bucht errichteten. Drei Jahre später war jäh Schluss, die Bevölkerung war von den Piraten nach Tunesien verschleppt worden; was aus ihnen wurde, ist mir nicht bekannt. Die Bourbonen sahen nicht ein, dass die Insel in arabischer Freibeuterhand bliebe, und planten eine zweite Besiedlung, diesmal gezielter; ein Militäringenieur entwarf ein Städtchen im Rasterformat, Schutzmauern und Türme, die den Angriffen der Piraten trotzen sollten. Wieder wurden willige Siedler herangeschafft, darunter mein Ahn, ein Apotheker aus Neapel, der erste del Buono auf Ustica.
Dass die Insel immer auch Gefängnisinsel war, hat mich erst als Erwachsene interessiert, als ich verstand, welche Bedeutung, ja welchen Kultstatus Antonio Gramsci und Amadeo Bordiga für Italien haben. Mein Urgrossvater Giuseppe hatte sie 1927 unterstützt, indem er ihnen Schreibutensilien und ein Radio gebracht und einen Raum zur Verfügung gestellt hatte, damit sie und die anderen Verbannten eine kommunistische Denkschule gründen konnten (den Schulraum gibt es noch, eine Art Museum, allerdings nur für wirklich Interessierte, man muss erst den Inselhistoriker finden). Diese Heimlichkeiten wurden Urgrossvater Giuseppe zum Verhängnis, vor allem das Radio brachte das Fass zum Überlaufen, und dieser korpulente Mann mit dem roten Haar (das hugenottische Erbe, sagte er stolz) wurde von den Faschisten in Rom von der Insel der Verbannten verbannt. Er kehrte nie wieder in seine Heimat zurück, konnte nur eine Tasche mitnehmen und keine Ersatzkleidung (was nicht weiter schlimm war, er bewohnte in Palermo noch eine Wohnung, Insel-Bürgermeister war er eigentlich nur im Sommer).
Ustica ist wasserlos, ein unwirtlicher Steinbrocken, bei klarem Wetter kann man das Inselchen von Palermo aus sehen. Bei meinem ersten Besuch sauste ich Hand in Hand mit einem Fischerjungen die steilen Treppenstufen hinauf und hinab, die die Piraten in den Fels geschlagen hatten. Carlo zeigte mir die Höhlen, in denen die arabischen Freibeuter ihre Schätze und auch sich selbst versteckt gehalten hatten. Wir spielten also Pirat und Piratin, der dunkelhaarige, braungebrannte Carlo und ich, das sommersprossige Mädchen aus dem Norden, dessen langes rotes Haar die Mutter mit Entschiedenheit und gegen alles Geschrei durchbürsten musste, damit es nicht zu sehr verfilzte, bei den Pfadfindern hatte man mich auf den Namen Troll getauft. Hätte ich damals schon Daniel Defoe gelesen (nicht «Robinson Crusoe», sondern die 1724 erschienene «Allgemeine Geschichte der Piraten»), ich wäre auf Anne Providence gestossen, diese ungestüme Frau mit dem feuerroten Haar, die es von Irland über South Carolina auf die Bahamas verschlagen hatte, wo sie überstürzt den Matrosen James Bonny heiratete, ihn aber bald wieder verliess, um sich dem eleganten John Rackham anzuschliessen, von dem gesagt wurde, er sei als Geliebter eines Kapitäns über den Atlantik gekommen und der Favorit vieler Offiziere der königlichen englischen Marine gewesen, und der auf dem Meutererschiff von Pierre Vane die Karibik in Angst und Schrecken versetzte. Ich hätte Gefallen gefunden an der Welt von «Pierre, dem schwulen Piraten», wie verschiedene Autoren ihn nannten, und an Anne Bonny, die sich mit Mary Read zusammentat, die zuvor als Mark Read auf einem holländischen Handelsschiff angeheuert hatte, von Piraten überfallen wurde und kurzerhand die Fronten wechselte. Ich hätte mir New Providence als verrufenes Nest auf den Bahamas imaginiert und mich selber darin gesehen (tatsächlich kam ich eines Tages nach New Providence, verrufen ist da nichts mehr, nur touristisch verkommen). Ich hätte mit John Rackham und den beiden Frauen in den Spelunken gesessen, wir hätten getanzt und gesoffen, und ich hätte gelitten, dabei zuzuschauen, wie Rackham dem Opium verfiel. Ich hätte über das Urteil des Admiralitätsgerichts geweint, das am 16. November 1720 Anne Bonny, Mary Read und John Rackham zum Tode verurteilte, und hätte mich über die harschen Worte Annes gewundert, die laut Daniel Defoe gesagt haben soll, es tue ihr zwar leid, Rackham so elend zu sehen, aber hätte er gekämpft wie ein Mann, würde er jetzt nicht gehängt wie ein Hund. Und ich hätte mich über den Trick der beiden Frauen gefreut zu behaupten, sie seien schwanger und bitteten deshalb um Gnade, die ihnen gewährt wurde, wenngleich Mary Read an einem Fieber im Gefängnis starb. Es hätte meine Fantasie explodieren lassen zu lesen, dass Daniel Defoe über Anne Bonny schrieb: «Was seither aus ihr geworden ist, können wir nicht sagen. Wir wissen nur eins: Sie wurde nicht hingerichtet.»
Doch ich hatte Defoe nicht gelesen, wusste nichts von karibischen Piratinnen, kannte nur die Stufen und Höhlen und Klippen Usticas. Doch bald tauchte ein anderes rothaariges Mädchen auf, in das ich mich verliebte und das mir als Identifikationsfigur dienen konnte. Sie stammte aus Kroatien, trug denselben Vornamen wie meine slowenische Grossmutter und ich. Und sie war Uskokin, eine Freischärlerin aus dem Küstenörtchen Senj, die zwar nicht wie ihre Vorfahren venezianische Schiffe überfiel und ausraubte, aber dennoch wild und frei war und zur perfekten Heldin meiner Kindheit aufstieg: Die rote Zora (und ihre Bande).
Zora del Buono
Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich, lebt heute in Berlin und Zürich. Sie hat an der ETH Zürich Architektur studiert und in den 1990er-Jahren in Berlin als Bauleiterin gearbeitet. Ihren ersten Roman veröffentlichte sie 2008. Zuletzt ist ihr Roman «Die Marschallin» (2020) erschienen, der auch auf der Insel Ustica spielt. Der abgedruckte Text ist erstmals erschienen in: «die horen, Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik» – Allerlei Seestücke, Ausgabe 282, Wallstein Verlag 2021.