Übrigens sei sie Antinatalistin, sagte sie.
Anti-was?, fragte er.
Antinatalistin, wiederholte sie, und ob er kein Latein gelernt habe, er sei doch sicher Akademiker und allem Anschein nach ein erfolgreicher.
Natalis habe mit Geburt zu tun, soviel sei ihm klar, und ob ihre Aussage bedeute, dass sie das Gebären verweigere?
So ungefähr, sagte sie und murmelte dann: Aber nicht den Sex.
Er mochte Frauen, die signalisierten, was sie wollten; offensichtlich gehörte die Antinatalistin in diese Kategorie.
Vorhin hatte er sich neben sie auf die Bank gesetzt, weil es nur zwei Bänke gab und auf der anderen ein rotgesichtiger Betrunkener schlief, der ihm in den Schoss hätte kippen können, was er sich ersparen wollte, denn sein Vater war ihm zu oft in den Schoss gekippt. Der hatte zwar nicht getrunken, aber Stimmungsveränderer zu sich genommen, in Mengen, wie man es aus 60er-Jahre-Filmen kannte, als man Valium schluckte wie Bonbons. Wenn er an die flackernden Augen seines Vaters dachte, die umherirrten wie die Suchscheinwerfer eines Schiffes vor dem Auflaufen auf ein Riff im Nebel, wurde ihm übel. Daher die Wahl für die Bank, auf der sie sass. Zudem war sie attraktiv. Älter als er und attraktiv. Blond und stark, sinnlich dazu. Wahrscheinlich roch sie gut. Keinesfalls roch sie säuerlich. Er erkannte Frauen, die säuerlich rochen, sofort. Und Menschen, die Psychopharmaka schluckten: So etwas lernte man als Sohn.
Sie warteten auf das Tram.
Durchsage der Leitstelle. Kollision auf der Linie 11. Der Fahrbetrieb ist bis auf Weiteres unterbrochen.
Das ist unseres, sagte er. Kollisionen häufen sich in letzter Zeit. Ob sie das auch schon bemerkt habe?
Die Menschheit, sagte sie, kollidiere sowieso bald im Ganzen. Daher seien kleine Kollisionen nicht weiter aufsehenerregend.
Ausser man selber ist der Kollidierte, sagte er, oder nennt man das Kollidant?
Kollidant und Kollidantin, lachte sie. Er sah Sommersprossen auf ihren Lippen. Er lachte auch.
Der Trinker war aufgewacht, vielleicht hatten sie ihn geweckt.
Kollision auf der Linie 11, erklärte sie ihm. Kommt grad kein Tram.
Rote Äuglein unter buschigen Brauen, er blinzelte freundlich und nickte wieder ein.
Da sitzen wir nun, sagte er.
Unter einem Mammutbaum. Sie zeigte hinter sich.
Schön, antwortete er beiläufig, der hohe alte Baum, aber wie es sich denn nun verhalte mit dem Antinatalismus. Was sie gegen Kinder einzuwenden habe? Kinder sicherten doch die Zukunft der Menschheit.
Eben, antwortete sie. Wozu braucht die Menschheit eine Zukunft? Höchste Zeit, dass es ein Ende nimmt. All das Leid überall, die Erde wäre besser dran ohne Menschen. Der Mammutbaum sei übrigens nicht alt, sondern blutjung, 140 Jahre etwa, wie fast alle Mammutbäume im Land. Ein cleverer Geschäftsmann habe die Sprösslinge um 1880 aus Kalifornien importiert, weil die hiesigen Industriellen und Villenbesitzer heiss auf die exotischen Bäume gewesen seien, die zu repräsentativen Riesen heranwüchsen.
Hatte sie tatsächlich HEISS gesagt, fragte er sich, dem ganz warm wurde ob ihrer leidenschaftlichen Sprechart. Er wagte es nicht, auf ihre Lippen zu schauen. Diese Sommersprossen …
Ein feinperliger Nebel zog auf.
Zudem seien viele Mammutbäume krank, geplagt von einem Pilz, der sie in Windeseile zerstöre, das liege an der Klimaerwärmung. Ein Alter von 3000 Jahren wie in Kalifornien sei ihnen nicht vergönnt, sie stürben im Babyalter. Neulich habe einer gefällt werden müssen, zerfressen in vier Wochen, faktisch tot, die Krone abgebrochen.
Ein Mammutbaum, zerstört von einem Pilz, in vier Wochen?, fragte er.
Botryosphaeria dothidea, sagte sie dann tatsächlich, sie sprach die zwei Worte herrlich akzentuiert aus.
Er wollte sie küssen und dachte Unanständiges. Sie sind Botanikerin?, fragte er stattdessen.
Dieses Fortgepflanze mache sie ganz irre, sagte sie, ohne auf seine Frage einzugehen, weil sie in Gedanken wieder bei der Menschheit als solcher war. Ob ihm aufgefallen sei, dass es unter den Angehörigen der Oberschicht (sie sprach das Wort mit einem gewissen Ekel aus, von dem er sich fragte, ob es Selbsthass war) in Mode gekommen sei, drei, wenn nicht gar vier Kinder zu zeugen, Kinderschar als Statussymbol: Wir können es uns leisten. Kinder statt Mammutbäume gewissermassen. Auch Ökos hätten die Tendenz, sich wie die Zeugen Jehovas zu vermehren; Nachhaltigkeit predigen, Fahrrad mit Kinderanhänger fahren, auf Biomärkten einkaufen, mit dem Zug verreisen, aber Nachwuchs im drittel Dutzend zeugen! Das sei doch unlogisch.
Er schwieg.
Haben Sie etwa Kinder im drittel Dutzend?, fragte sie ihn, ein wenig betreten. Sie hatte ihn nicht kränken wollen. Sie musterte ihn von der Seite. Er sah gut aus, dunkelhaarig, drahtig, markante Nase, sie schätzte ihn auf 35. Ein bisschen zu sauber vielleicht. Wahrscheinlich einer von denen, die vor dem Joggen duschen gingen und nach Weichspüler rochen, wenn sie an einem vorbeitrabten. Zu saubere Männer waren unerotisch, aber das verstanden die nicht. Diese hübsche Stadt war vollgestopft mit zu sauberen Männern, wahrscheinlich war sie die globale Hauptstadt der zu sauberen Männer, Homos und Heteros, es war einerlei.
Im sechstel, antwortete er, ich habe Kinder im sechstel Dutzend.
Das geht ja noch, brummte sie.
Beinahe war er ein wenig beschämt. Er wollte nicht an seine Kinder denken.
Die Nebelschwaden verdichteten sich. Seltsam, sagte er, Nebel zu dieser Jahreszeit, und so hermetisch, es tropft ja schon vom Baum, das Klima ist auch nicht mehr, was es war.
Sag ich doch!, rief sie. Wir sind destruktiv! Und alle anderen Tiere leiden unter uns. Es gibt nur eine Lösung: Weg mit uns!
Der Trinker wachte auf und schaute sie entsetzt an. Warum denn weg?, fragte er. Es ist doch zauberhaft hier. Dann kippte er um.
Das tosende Krachen hörten sie noch. Danach nichts mehr.
Durchsage der Leitstelle. Die Strecke der Tramlinie 11 ist wegen eines Baumschadens bis auf Weiteres gesperrt. Bitte entschuldigen Sie die Störung.
Zora del Buono
Die Autorin (55) liebt alte Bäume und komplizierte Menschen. In ihrem Buch «Das Leben der Mächtigen – Reisen zu alten Bäumen» besuchte sie 14 der ältesten Bäume der Welt und erzählt deren Geschichten. Zora del Buonos Novelle «Gotthard» begleitet acht Exzentriker durch einen Tag auf der Neat-Baustelle. In ihrem neusten Roman «Hinter Büschen, an eine Hauswand gelehnt» schildert die Zürcherin das mitunter abstruse Leben in einem
US-College im Zeitalter der Überwachung.
www.zoradelbuono.de