Wie aufgeschreckte Hühner rennen die Artisten auf der Bühne hin und her. Sie purzeln übereinander oder kugeln aus dem Handstand auf den Boden. Ein Gespenst im roten Samtumhang geht um und versetzt die Truppe in Panik. Ein junger Artist knallt vor Schreck gegen einen Wohnwagen, das Fenster fällt ihm auf den Kopf. Mit plattgedrückter Nase rennt er blindlings im Kreis. Ein kleiner Zuschauer, der sich kurzzeitig zu den Proben im Zürcher Binz-Areal gesellt hat, prustet laut heraus.
Trotz sommerlicher Hitze proben die fünf Profis und die fünf Jugendlichen vom Zirkus Chnopf mit vollem Körpereinsatz für das neue Stück «Panik!». Im Mittelpunkt steht ein Clown, der sich vor lauter Lampenfieber nicht auf die Bühne traut und mit seiner Nervosität die anderen ansteckt.
«Zirkus und Theater – zwei unterschiedliche Welten»
So geht denn nach dem euphorischen Tusch der Zirkusband, die den Beginn der Vorstellung mit Trompeten und Posaunen ankündet, alles schief: Das Bühnenbild zerfällt in seine Einzelteile, und der Clown wird in seiner Angst zum kleinen Diktator, der den Rest der Truppe herumkommandiert. Erst die Liebe zu einer schönen Seiltänzerin stimmt ihn milde.
Regelrecht Funken sprühend steht Regisseur Daniel Pfluger auf der Bühne und leitet das choreografierte Chaos. Er hat an der Deutschen Oper Berlin und anderen Bühnen inszeniert und wagt sich mit dem Zirkusstück auf neues Terrain. Auch der künstlerische Leiter Matthias Schoch kommt aus der Schauspiel-Sparte. «Theater und Zirkus sind zwei total unterschiedliche Welten», sagt er bei einem Gespräch fernab vom Proben-Gepolter. «Beim Zirkus ist das Handwerk viel wichtiger als im Sprechtheater. Und bei Theaterformen ohne Sprache hat der Zuschauer meist ein sinnlicheres Erlebnis.»
Dennoch ist der «Chnopf», der sich auch als Ausbildungsstätte für künstlerisch interessierte Jugendliche versteht, kein konventioneller Zirkus: Artistik wird hier stets mit Theater und Live-Musik verknüpft, im Zentrum steht jeweils ein aktuelles Thema.
Nebst Slapstick auch Hintergründiges
Mit dem diesjährigen Thema Angst will das Team gesellschaftspolitische Fragen etwa zum Populismus aufwerfen. Während ein Fünfjähriger sich über den panisch-tollpatschigen Clown amüsiert und sich in seinen Ängsten vielleicht wieder erkennt, kann der erwachsene Zuschauer nebst der Freude am Slapstick Parallelen zu aktuellen oder historischen Ereignissen, zu Faschismus oder Diktatur ziehen.
Zum Gespräch gesellt sich Roman Müller, Jongleur und künstlerischer Leiter des Festivals für aktuelle Zirkuskunst. Er hat den Zirkus Chnopf zum Cirqu’ in Aarau eingeladen. Nebst internationalen Stücken ist es ihm wichtig, die Schweizer Zirkus-Szene zu fördern.
Mitten auf dem Bahnhofplatz in Aarau wird der Zirkus Chnopf zu sehen sein – nahe bei den Menschen und mit Hutsammlung für jeden erschwinglich. «Mit ihm erreichen wir ein anderes Publikum», ist Müller überzeugt und Schoch ergänzt: «In unserem Stück spielen wir mit der Zirkus-Nostalgie, und vielleicht haben wir in Aarau die Funktion eines Appetizers, der Lust auf mehr machen soll.»
Denn mit Zirkus im herkömmlichen Sinn – mit aufeinanderfolgenden Akrobatik-, Tierdressur- oder Clown-Nummern in der Manege – hat das Programm des Cirqu’ wenig zu tun. Enthusiastisch erzählt Müller von seinen Entdeckungen aus ganz Europa: Objekttheater, Tanz oder experimentelle Performances mischen sich mit Zirkus-Elementen.
Ohne Erwartungshaltung Neues entdecken
Der Begriff «zeitgenössischer Zirkus» lässt sich weit fassen. Entstanden ist die Form in Frankreich im Geist der 68er-Bewegung. «Damals ging es um eine Abgrenzung, eine Revolte gegenüber alten Formen und Zwängen, wie es auch beim zeitgenössischen Tanz der Fall war», erklärt Müller. «Noch heute wird in ganz unterschiedliche Richtungen experimentiert. Der zeitgenössische Zirkus kann mit seinen Inhalten und Formen eine eigene Sprache finden: Etwas, das nicht mit Theater oder Tanz erzählt werden kann, aber dennoch intellektuell anregt.» Manche Produktionen hinterlassen beim Publikum zuweilen Fragezeichen – durchaus gewollt. «Wer die Erwartungshaltung ablegt und einfach nur beobachtet, dem erschliessen sich plötzlich andere Welten», schwärmt er.
Glockengebimmel erklingt
im Zürcher «Chnopf»-Quartier und läutet die zweite Probenrunde ein. Die jüngsten im Bunde sind gefordert. Während die 15-jährige Julia die Schrecksekunde übt, in der sie fast von einem Pneu überrollt wird, schwitzt der 20-jährige Marius unter dem Roten Teppich, der ihn begraben hat. Angesichts des lauten Spektakels fragt der 17-jährige Lino: «Kann ich nicht einfach cool daneben stehen?» Kann er natürlich nicht, wie ihm der Regisseur postwendend antwortet, und kurz darauf ist auch Lino wieder in die Chaos-Truppe eingebunden. Mit der Energie eines Welpen tollt er über die Bühne und liefert dem Regisseur mit seinem improvisierten Slapstick gleich eine Idee für das neue Stück.
Zirkus Chnopf
Premiere: «Panik!»
Fr, 16.6., 19.30 Rote Fabrik Zürich
Schweizer Tournee: www.chnopf.ch
Am Festival Cirqu’:
Fr, 23.6., 17.30
Sa/So, 24.6./25.6., 17.00
Bahnhofplatz bei AKB Aarau
Zwischen Tradition und Innovation
Das zehntägige Festival für aktuelle Zirkuskunst Cirqu’ in der Alten Reithalle Aarau und an Spielstätten im Freien lädt zum dritten Mal mit internationalen und nationalen Produktionen zu Entdeckungen ein. Die Bandbreite ist gross: Während etwa der französische Cirque Aïtal mit seinem Stück «Pour le meilleur et pour le pire» alte Zirkustraditionen belebt und in einer Manege akrobatisches Können mit Slapstick mischt, zeigt der Belgier
Alexander Vantournhout mit seinem Stück «Aneckxander» eine Performance jenseits des konventionellen Zirkus’: Der Artist mit dem aussergewöhnlich langen Nacken, der auch an Tanzfestivals auftritt, schafft mit seinem Körper bizarre Skulpturen. Viel Poesie bringt die französische Compagnie
Non Nova mit ihrem Stück «L’après-midi d’un foehn» in die Reithalle. Bunte Plastiksäckchen verwandeln sich mit Klebstreifen und Schere in kleine Männchen und entwickeln im Luftstrom der Ventilatoren ein Eigenleben. Der belgische Choreograf Claudio Stellato lässt derweil in seinem Stück «La Cosa» vier Männer in Anzügen mit vier Kubikmeter Holz experimentieren – Klang, Geruch und voller Körpereinsatz verbin-den sich zu einer rhythmischen Performance. Das vielfältige Programm richtet sich an unteschiedliche Altersklassen, an Familien gleichermassen wie an ein kulturinteressiertes erwachsenes Publikum.
Festival Cirqu’
Fr, 16.6.–So, 25.6.
Alte Reithalle Aarau u.a.
Infos unter: www.cirquaarau.ch
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kulturtipp
Stichwort «Zirkus»
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Sommertheater unter freiem Himmel
Die Freilichtsaison beginnt: Nebst dem Zirkus Chnopf finden bis Ende September zahlreiche Bühnen-Produktionen unter freiem Himmel statt. Der kulturtipp hat eine Auswahl aus der ganzen Schweiz zusammengestellt – vom professionellen Spektakel bis zur kleinen Laienproduktion.
Die schwarze Spinne
Bis Sa, 15.7., verschiedene Orte Kanton Zürich
www.theaterkantonzuerich.ch
Schluck und Jau
Bis Sa, 15.7., Ramstein Schüür Malters LU
www.theater-malters.ch
Sektor 1 – Karl’s kühne Gassenschau
Bis Sa, 26.8., Industriepark Oberwinterthur ZH
www.sektor1.ch
Diverse Komödien und Lustspiele
Bis Sa, 9.9., beim Stadthaus Winterthur ZH
www.sommer-theater.ch
Stadt der Vögel
Di, 13.6.–Sa, 29.7., Tribschen Luzern
www.freilichtspiele-luzern.ch
Wiiberheer
Fr, 16.6.–Fr, 14.7., Freilichtspielbühne Eichholz Grenchen SO
www.freilichtspiele-grenchen.ch
La vida es sueño
Mo, 19.6.–Fr, 18.8., verschiedene Orte Kanton Graubünden u.a.
www.origen.ch
Wilhelm Tell
Fr, 23.6.–Do, 27.7., Münsterplatz Konstanz (DE)
www.theaterkonstanz.de
Göschenen am Meer
Fr, 30.6.–Sa, 19.8., Areal der Heizwerk Gotthard AG Göschenen UR
www.goeschenen-am-meer.ch
Veronika Gut – Aufruhr in Nidwalden
Mi, 5.7–Sa, 19.8., Freilichtmuseum Ballenberg bei Brienz BE
www.landschaftstheater-ballenberg.ch
Die Räuberhochzeit
Fr, 7.7.–So, 20.8., Moosegg zwischen Emmenmatt BE und Biglen BE
www.freilichtspielemoosegg.ch
Romeo und Julia am Gornergrat
Sa, 8.7.–So, 27.8., Riffelberg Zermatt VS
www.freilichtspiele-zermatt.ch
Tell – ein Stück Schweiz
Sa, 8.7.– Sa, 16.9., Tell-Arena Matten bei Interlaken BE
www.tellspiele.ch
Spaats Glück
Di, 11.7.–Sa, 5.8., beim Schulhaus Bündelti Klosters Monbiel GR
www.freilichtspiele-klosters.ch
Cats
Mi, 12.7.–Do, 24.8., Seebühne Thun BE
www.thunerseespiele.ch
Kasimir und Karoline
Do, 13.7.–Do, 10.8., Seeburgpark Kreuzlingen TG
www.see-burgtheater.ch
Winnetou 1
Sa, 15.7.–So, 13.8., Naturbühne Engelberg OW
www.winnetou.ch
Saturday Night Fever
Mi, 19.7.–Sa, 26.8., Walensee-Bühne Walenstadt SG
www.walenseebuehne.ch
Dällebach Kari
Do, 27.7.–Sa, 26.8., bei Turnhalle Dorf Windisch AG
www.freilicht-spektakel.ch
D Geier Wally
Fr, 4.8.–Sa, 26.8., Hohfure Wangen an der Aare BE
www.waudbühni-hohfure.ch
Die Physiker
Mi, 9.8.–Sa, 9.9., Wasserschloss Hagenwil bei Amriswil TG
www.schlossfestspiele-hagenwil.ch
Gott und Tod
Fr, 18.8.–Sa, 9.9., Kirchplatz Muttenz BL
www.theatergruppe-rattenfaenger.ch
Vo innä uisä– Visionsgedenkspiel Niklaus von Flüe
Sa, 19.8.–Sa, 30.9., Wiese zwischen Sachseln und Flüeli-Ranft OW
www.mehr-ranft.ch
Der Schmugglerkönig
Fr, 8.9.–So, 24.9., Blattenberg zwischen Rüthi und Oberriet SG
www.schmugglerkoenig.ch