Eben noch stand Nanine Linning auf der Bühne des altehrwürdigen Stadttheaters Bern, beobachtete konzentriert und ruhig die Tänzerinnen und Tänzer. Punkt eins hatte sie sich aus der Probe verabschiedet. Da sitzt sie nun im Theaterfoyer, 36 Jahre jung und schön, offen für das Gespräch und ebenso konzentriert wie zuvor mit der Berner Tanzcompagnie.
Nanine Linning wird als Gastchoreografin mit ihrem Stück «Zero» die Tanzsaison am Konzert Theater Bern – unter neuer Tanzleitung und mit einigen neuen Tänzern – eröffnen. Die Uraufführung fand Anfang Jahr am Theater Heidelberg statt. Dort hat die Holländerin zusammen mit ihrer 2009 gegründeten Dance Company Nanine Linning vorläufig ein festes Domizil gefunden. Innerhalb der Tanzszene hat sie mit ihren Arbeiten längst von sich reden gemacht als eine der wenigen Frauen im von Männern dominierten Choreografiefach. Ihre Arbeiten sind von emotionaler Kraft und mit einer Vorliebe zu skulpturalen Bewegungsbildern. «Tanz», sagt sie, «ist nicht die Kunstform, um zu verstehen, aber die beste, um universalen Gefühlen und Erfahrungen Ausdruck zu geben.» Dabei liebt es die Choreografin, ihre Visionen mit Leuten ausserhalb des Theaters zu entwickeln, mit bildenden Künstlern oder der Modedesignerin Iris van Herpen. «Ich versuche, auf der Bühne Neues zu kreieren, und Iris ist darin eine Meisterin», schwärmt Linning.
Was für den Pariser Catwalk noch tragbar ist, wird für Tanzende schnell zur lähmenden Last. Begrenzungen wie allzu schwere Kostüme fordern der Choreografin einiges an Übersetzungskünsten ab. Eine Herausforderung allerdings, die bei ihr die besten Ideen freisetzt. Schon zum sechsten Mal arbeitet Linning mit der Modedesignerin zusammen. Sie modifiziert deren Kostüme so, dass Tänzer sich gut darin bewegen können.
Tanzunternehmerin
Die Frage nach dem Warum, nach dem Sinn für eine Bewegungssequenz ist für Linning bis heute wichtig. Sie legt Wert darauf, dass ihre Tänzer verstehen, weshalb sie etwas auf bestimmte Weise auf der Bühne interpretieren. Am Ende des künstlerischen Prozesses steht immer das Publikum, ohne dessen Interesse jegliche Kunst bedeutungslos wird. «Mein grösstes Talent ist es, ein Team zu bilden», meint sie.
Linning zieht keine Grenze zwischen ihren kreativen Aufgaben und der Organisation und Mittelbeschaffung. Sie möge die Rolle einer Tanzunternehmerin, sagt sie. Ihrer Meinung nach kann es sich ein Künstler im 21. Jahrhundert nicht mehr leisten, den Aspekt des sich Verkaufens und der Kommunikation ausser Acht zu lassen. Schliesslich braucht es Geld, um choreografische Träume zu erfüllen. Linnings Ambitionen gehen weit über die Möglichkeiten eines Stadttheater-Betriebs hinaus, und da sind kreative Lösungen auf allen Ebenen gefragt.
Nanine Linning tanzt, seit sie sich erinnern kann. Tanzte für ihre Eltern und Grosseltern und choreografierte für ihre jüngere Schwester, als wärs ein Kinderspiel. Aufgewachsen ist sie in Amsterdam in einem Elternhaus, das ihr Interesse für die Vielseitigkeit der Kunstwelt immer unterstützte. Mit zwölf Jahren stellte sich ihr die Frage, ob sie eine klassische Tanzausbildung am Konservatorium beginnen sollte.
Wildes Tanzen
Doch Linning merkte bald, dass Ballett ihre Sache nicht war. Warum an der Stange stehen, während doch der grosse weite Raum zum wilden Tanzen einlud? «Ich wollte nicht Bewegungen wiederholen, sondern selber etwas kreieren.» Der Teenager von damals muss ein störrischer Fall für ihre Lehrerinnen gewesen sein. Mit etwa dreizehn Jahren realisierte sie während einer Aufführung verblüfft, dass nicht die Tänzer selber das Stück kreierten (wie sie immer geglaubt hatte), sondern eine Figur im Hintergrund: Der Choreograf. Das war wie eine Erleuchtung. Die eigenwillige Jugendliche entschied sich für die Rotterdamse Dansacademie, die sie 1998 mit dem Choreografie-Diplom abschloss.
Eigener Weg
Noch in dieser Zeit konnte sie William Forsythe in Frankfurt assistieren, ihrem absoluten «Hero». Sie lächelt: «Etwa fünf Jahre lang hat mir Billy bei der eigenen Arbeit noch über die Schulter geschaut, so stark war sein Einfluss.» Längst hat sie den abgeschüttelt und geht selbstbewusst und erfolgreich ihre eigenen künstlerischen Wege.
Zero
Premiere: Sa, 19.10., 19.30
Konzert Theater Bern
www.konzerttheaterbern.ch
Schweizer Erstaufführung
Das Tanzstück «Zero» hatte Anfang Jahr am Theater Heidelberg seine Uraufführung und wird in Bern als Schweizer Erstaufführung gezeigt. Es ist der zweite Teil einer Trilogie zum Thema «Lebenszyklen». Was passiert, fragt sich Choreografin Nanine Linning, wenn sich die Erd-Schwerkraft verändert und eine neue Eiszeit anbricht? In diesem apokalyptischen Setting entsteht neues Leben. Das Stück ist für den «Faust» 2013, die bedeutendste Theaterauszeichnung Deutschlands, nominiert.