1937 verhaften Stalins Schergen Wassili und seine Frau, beide Kommunisten: «Sie schlugen mich mit einem Sack voll Sand auf den Bauch. Sie hängten mich an einem Haken auf. Mittelalter. Alles läuft aus dir heraus.» Wassili erfuhr nie, was sie ihm vorwarfen. Irgendwann kommt er frei, meldet sich zur Front und kehrt hochdekoriert zurück. Das Kreisparteikomitee bestellt ihn ein. Man sagt ihm: «Ihre Frau können wir Ihnen nicht zurückgeben, aber Ihr Parteibuch bekommen Sie zurück.» «Und ich war glücklich», sagte der 87-Jährige der staunenden Interviewerin Swetlana Alexijewitsch.
Über 100 Stimmen von Sowjetmenschen lässt Alexijewitsch in ihrem neuen Buch zu Wort kommen. Sie gehören Veteranen, Dissidenten-Kindern, Müttern, einer erfolgreichen Werbemanagerin, Flüchtlingen aus Abchasien und Studenten. Sie berichten offen, mit welchen Empfindungen sie den Zusammenbruch der Sowjetunion erlebten und wie sie sich in den Trümmern einrichteten.
Die ersten Gespräche reichen bis 1991 zurück, als das Imperium kollabierte. Die jüngsten datieren aus dem Jahr 2012, als russische Polizisten in einem Klima des Fremdenhasses «Gastarbeiter« aus dem Kaukasus totprügelten, ohne Strafen fürchten zu müssen.
Aus vielen Interviews sprechen der Glaubens- und Identitätsverlust der Gesprächspartner, denen der Untergang ihres Staates den Boden unter den Füssen wegzog. Die meisten hassen den neuen Raubtierkapitalismus. Der Sohn einer Altkommunistin bringt es auf den Punkt: «Liebe zum Geld ist verwerflich. Lieben muss man seinen Traum.» Viele «Sowoks» verklären die Zeit, in der alle dieselbe Nationalität hatten, russisch sprachen, gleich viel verdienten, Bücher liebten und nur in der Küche offen sprachen. Damals waren alle auch stolz, Hitler besiegt zu haben und Teil von etwas Grösserem zu sein – dem Imperium mit dem Traum vom neuen Menschen.
Mit ungetrübtem Blick
Alexijewitsch begegnet den Gesprächspartnern mit Sympathie, aber ungetrübtem Blick: Der Sozialismus war für die Autorin eine «Mischung aus Gefängnis und Kindergarten», und vielen Sowjetmenschen attestiert sie eine Unfähigkeit, mit Freiheit umzugehen. Es wimmelt in ihrem Buch von Männern, die sich zu Tode trinken oder Suizid begehen. Angefangen bei einem dichtenden 14-Jährigen, der sich in Todesneugier aus dem Fenster stürzte, bis zu Sergej Achromejew, einem Sowjet-Marschall, der sich 1991 erhängte, als der Staat, an den er glaubte, zerbröckelte. Alexijewitsch lässt Dutzende Menschen davon sprechen, wie das sozialistische System ihnen die Ideale der Selbstaufopferung und Askese einimpfte. Eine Ärztin sagt: «Unser grösster Traum war es, zu sterben! Sich aufzuopfern.» Die Sowjet-Menschen lernten den Tod zu lieben, nicht das Leben.
Swetlana Alexijewitsch bekam im Oktober den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Der Historiker Karl Schlögel rühmte sie als «Archäologin der kommunistischen Lebenswelt». Treffender kann man es nicht sagen. Die 65-jährige Weissrussin hört den Menschen zu, die keine Stimme haben. Für ihre dokumentarischen «Romane« entschlackt sie die Interviews, montiert virtuos Stimmen zu Chören, verdichtet die Sprache, bis vieles wunderbar rhythmisch und zart poetisch klingt.
Schwere Kost
Fünf Bücher hat sie veröffentlicht, aber im Grunde schreibt sie, wie sie sagt, ein einziges Buch der «Geschichte der Gefühle« im (post-)sowjetischen Zeitalter. 1983 befragte sie Scharfschützinnen und Infanteristinnen, die wie eine Million andere Frauen im Zweiten Weltkrieg an der Front kämpften, aber nie darüber sprachen. In «Zinkjungen« entlarvte sie in Gesprächen mit Veteranen und Müttern von Gefallenen der Afghanistan-Invasion die heroischen Mythen als Propaganda. Für «Tschernobyl« sprach sie mit Liquidatoren, Ärzten, Feuerwehrleuten, Bauern.
Die Schilderungen in «Secondhand-Zeit» sind von schier unerträglicher Grausamkeit, die einem das Weiterlesen schwer machen. Da berichtet die Architektin Anna, dass es in den Lagern, in denen sie aufwuchs, keine Katzen gab. «Sie überlebten dort nicht, weil es nie Essensreste gab.» Oder die Geschichte der schönen «Tante Olja». Unter Stalin hatte sie ihren Bruder denunziert, der im Lager umkam. Jetzt war sie alt, und eine junge Verwandte fragte sie, warum sie das getan habe. Sie sagte: «Ich war damals glücklich. Ich wurde geliebt.»
Keine Aufarbeitung
Die Autorin beschreibt in einer anderen Passage, wie «Onkel Wanja» nach zehn Jahren Zwangsarbeit in den Erzgruben von Workuta mit verkrüppeltem Arm und kaputter Leber in seinen alten Betrieb zurückkehrte, um von nun an am Schreibtisch seinem damaligen Denunzianten gegenüberzusitzen. Opfer und Täter schweigen. Bis heute gibt es in der
Ex-UdSSR keine Prozesse, keine Wahrheitskommission, keine Aufarbeitung. Alexijewitsch spricht von «Secondhand-Zeit» und meint damit, dass alte, schreckliche Ideen wie der Stalinismus heute erneut in Mode kommen. Die meisten russischen Jugendlichen halten laut Umfragen Stalin für einen guten Politiker. Wer das Buch gelesen hat, wundert sich nicht.
Swetlana Alexijewitsch
«Secondhand-Zeit» 576 S. (Hanser 2013).
«Der Krieg hat kein weibliches Gesicht» 357 S. (Hanser 2013).
«Tschernobyl»
297 S. (Berlin 2006).