Ein alter Mann sitzt allein an seinem Esstisch, den Blick auf die Mahlzeit gerichtet, die vor ihm auf dem Teller liegt. Keine menschliche Stimme ist zu hören, kein zweites Gesicht zu sehen. Es ist eine Szene, die sämtliche Elemente abgrundtiefer Einsamkeit in sich vereinigt – und eine Szene, die in Deutschland mehr als dreissig Millionen Menschen zu Herzen rührte.
Dreissig Millionen Menschen haben in den vergangenen Wochen und Monaten den Werbespot einer deutschen Supermarkt-Kette angeklickt, in dem der alte Mann am Tisch sitzt. Er wurde zum Internetstar des Jahres 2015. Weder niedliche Katzen noch dünn bekleidete Skandalnudeln konnten mit seinem Klickerfolg mithalten. Erst nach etwa einer Minute enthüllt der Spot sein Werbeziel: essen in grosser familiärer Runde, somit der Einkauf von Lebensmitteln für die gesellige Mahlzeit. Mit diesem optimistischen Kontrastbild endet der Kurzfilm. Der alte Mann greift nämlich, um seine vergessliche Verwandtschaft an ihn zu erinnern, zu einem Trick und verschickt seine Todesanzeige. Und schon kommen alle an, Söhne, Töchter, Schwiegersöhne und Enkel, sind beglückt, ihn wider Erwarten lebend anzutreffen, setzen sich rund um den Tisch, speisen vergnügt, reden und lachen.
Ebenso drastisch wie sentimental scheint dieser Werbespot die landläufige Diagnose von der modernen, an sozialer Isolation und Vereinsamung erkrankten Gesellschaft zu bestätigen. Die Gründe für das Krankheitssymptom sind ebenfalls vertraut: Wachsende Individualisierung, sinkende Bindungsbereitschaft, Zerfall der klassischen Familie, hohe Scheidungsraten, immer höherer Anteil an Singles, demografischer Wandel zulasten der Alterseinsamkeit … Man muss nicht lange überlegen, um die Motive zu finden, aus denen sich das düstere Bild der modernen Einsamkeitsgesellschaft zusammensetzt.
Aber stimmt das Bild? Entspricht es überhaupt der Realität? Oder folgt es nur einem Reflex gängiger Kulturkritik? Betrachtet man den Sensationserfolg des Werbespots aus nüchterner Distanz, scheint er ein Paradox abzubilden: Es gäbe diesen Erfolg ja nicht ohne das Medium sozialer Vernetzung, dem er sich verdankt. Es gäbe ihn nicht ohne die dreissig Millionen Menschen, die dieses Medium nutzen, in ihm kommunizieren, Meinungen austauschen, Affekte teilen, sich eine Stimme verschaffen, mit anderen Stimmen in Kontakt treten. Wer bei Google die Stichworte «Alter» und «Einsamkeit» eingibt, findet auf dem Bildschirm augenblicklich ein Dutzend von Plattformen, die Fluchtwege aus der Einsamkeit anbieten, auch solche, die aus dem digitalen in den realen Raum führen, zu gemeinsamen Wanderungen, Spielabenden, Konzertbesuchen einladen. Er findet innerhalb von fünf Minuten Schicksalsgefährten. Mit einem Internetanschluss, ein wenig Risiko- und Improvisationsbereitschaft hätte sich auch der alte einsame Mann helfen können. Er hätte Menschen finden können, die ihm die mangelnde Geborgenheit und Anteilnahme der Familie ersetzen.
Der Werbespot beschwört folglich eine Realität herauf, die man als anachronistisch bezeichnen kann und die von vielen Soziologen auch so genannt wird. Eine Realität, die der Vorepoche technischer Kommunikation entspricht und einer Zeit, in der nur die traditionelle Ehe und die biologische Familie ein Bollwerk gegen die Vereinzelung garantierten. Die Gegenwart sieht etwas anders aus. Aus aktuellen sozialwissenschaftlichen Studien, unter anderem der des amerikanischen Soziologen Eric Klingenberg, geht hervor, dass Singles zwar tatsächlich fast vierzig Prozent der Bevölkerung westlicher Gesellschaften ausmachen, dass sich aber gerade diese Gruppe um vitale Freundschaften, um aktiven Austausch mit anderen Menschen bemüht und mit ihrer Lebensform alles in allem recht zufrieden ist. Sie sind demnach keineswegs die verbitterten alten Jungfern und skurrilen Hagestolze, die traurigen Aussenseiter, wie man sie aus der Romanliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts kennt. Sie sind eher die Avantgarde der Gesellschaft, experimentieren mit Modellen der Gemeinschaftlichkeit, die in die Zukunft weisen und geprägt sind von sozialen Netzwerken.
Das gilt nicht zuletzt für die Liebes- und Partnersuche. Schätzungsweise die Hälfte aller Singles ist Mitglied einer digitalen Partnerbörse. Jede fünfte Ehe geht mittlerweile aus dem Kennenlernen am Rechner hervor. Nach Universität und Arbeitsplatz ist das Netz heute der wichtigste Liebesmarkt. Gerade Senioren, Menschen der Altersklasse 60plus, bedienen sich des digitalen Angebots, um im Herbst des Lebens noch einmal Schmetterlinge im Bauch zu spüren. Das Bild des Rentners, der seine Nachmittage auf der Friedhofsbank verbringt, weil er hofft, dort einer gleichgesinnten Rentnerin zu begegnen, ist überholt. Einsamkeit, so liesse sich schlussfolgern, ist nicht mehr die unvermeidliche Nemesis der Moderne und für den Einzelnen kein unabänderliches Schicksal.
Lässt sie sich tatsächlich abschaffen? Bewegt sich die Geschichte auf eine Kultur hin, in der Einsamkeit keine wesentliche Rolle mehr spielt? Ja und nein. Ja insofern, als sich die sozialen Spielräume weiten, Kommunikation sich leichter und flexibler gestaltet als in der Vergangenheit. Nein insofern, als Einsamkeit niemals nur einen sozialen Tatbestand darstellt. Sie ist mindestens sosehr ein existenzielles Gefühl. Ein Gefühl der Unzugehörigkeit, der inneren Isoliertheit und seelischen Unverbindlichkeit. An diesem Gefühl kann auch leiden, wer keine Stunde ohne Nachrichten aus den Netzwerken, keinen Tag ohne Verabredungen, keinen Abend ohne Gesellschaft verbringt. Es ist jene Einsamkeit, die vom sozialen Betrieb überschattet wird und den Charakter eines unsichtbaren Phantoms annimmt. Vermutlich liegt hier der Grund für den spektakulären Erfolg des Werbeclips vom alten einsamen Mann: Er erinnerte, wenn auch mit einem gestrigen Bild, dreisssig Millionen Menschen an die Anwesenheit dieses Phantoms.
Ursula März
Die mehrfach ausgezeichnete deutsche Schriftstellerin Ursula März machte sich einen Namen als Essayistin und Porträtistin, zum Beispiel über die Fotografin Ré Soupault und den Schweizer Schriftsteller Paul Nizon. Zuletzt ist von ihr das Buch «Für eine Nacht oder für das ganze Leben – Fünf Dates» erschienen. Sie berichtet darin über Beziehungen, die online angebahnt wurden.