Ich muss Ihnen eine Geschichte erzählen. Eine wahre Geschichte. Ich weiss ja schon länger, dass ich diesen Text hier schreiben soll. Bis vor zwei Tagen aber hatte ich rein gar nichts. Über Utopien wollte ich schreiben – und die Frage, warum sie uns heute fehlen. Nur, wo sollte ich anfangen? Bei Thomas Morus, bei Karl Marx, bei den 68ern oder doch bei mir selbst, ganz persönlich? Wenn die Philosophie zu etwas gut sein soll, und davon bin ich überzeugt, dann muss sie mein eigenes Leben, meinen Alltag verändern. Ich wollte die Utopie also nicht nur denken, sondern sie leben.
Nun fragen Sie sich natürlich, wie das denn geht: utopisch leben. Ist das Leben als solches nicht immer schon das Gegenteil der Utopie und die Utopie immer das Andere der Realität? Der Un-Ort? Das bloss oder kaum noch Denkbare? Genau das habe ich mich auch gefragt. Und bin zum Schluss gekommen, dass ich eine Minimalvariante des Utopischen, eine Utopie light, brauche, eine Utopie to go, eine für Dummies oder eine Do-it-yourself-Variante davon. Denn, so viel war mir klar, ich kann die Gesellschaft nicht von heute auf morgen als Ganze umkrempeln. Ich musste eine Schnupperkurs-Variante versuchen, ganz für mich persönlich. Mein Vorsatz also war: Ich stehe am Morgen auf und mache für einmal alles anders. Ein Tag als Utopist. Ich wollte mir beweisen, dass mein Leben in all seinen Facetten nicht alternativlos ist. Es gibt eine Alternative. Jederzeit und überall.
Zunächst dachte ich, die Sache sei ganz einfach: Ich stand auf, lief ins Bad und putzte mir die Zähne, ausnahmsweise nicht mit der rechten, sondern mit der linken Hand. Aber während ich so putze und mich im Spiegel betrachte, denke ich: Hätte ich das Zähneputzen vielleicht ganz weglassen sollen? Oder hätte ich gar nicht erst aufstehen dürfen und stattdessen liegen bleiben sollen? Das Problem schien in der Natur der Sache zu liegen, denn man kann die Dinge schliesslich auf unzählige Arten anders machen als bisher. Es fehlte eine klare Regel. Andererseits wollte ich mich auch keiner Regel unterordnen – ausser natürlich derjenigen, für einmal alles anders zu machen. Das utopische Leben durfte nicht selbst zum Zwang werden. Ich musste also spielerisch vorgehen, inkonsequent. Eher wie ein Kind als wie ein Revolutionär.
Der morgendliche Blick in den Spiegel bestätigte übrigens diesen Vorsatz, denn vor dem Frühstück sieht niemand aus wie ein Revolutionär. Allerdings auch nicht wie ein Kind. Eher älter als sonst. Aber vielleicht lag das auch am Kaffee, auf den ich heute ausnahmsweise verzichtet hatte. Aufs Essen aber konnte und wollte ich nicht verzichten. Also machte ich mir ein Konfi-Brot, mit Butter. In dieser Reihenfolge, versteht sich. Mit meiner Frau sprach ich beim Frühstück für einmal kein Wort. Als auch sie auf einmal schwieg, stand ich auf, zog mir keine Jacke an und lief zur Arbeit.
Vorher musste ich noch in die Migros. Ging dann aber zu Coop. Da stellte ich mich absichtlich an jene Kasse – Sie ahnen es – mit der längsten Schlange. Den Laden verliess ich, wie zu erwarten, ohne zu bezahlen. Dafür nahm ich dem Bettler am Eingang das Geld weg. Ab dann musste alles schnell gehen. Ich stieg in ein anderes Tram als sonst und kam deswegen zu spät zur Arbeit. Da ich unterwegs auf dem Handy jedoch alle E-Mails ungeöffnet gelöscht hatte, konnte ich Zeit sparen und pünktlich die Sitzung eröffnen, zu der ich gar nicht erscheinen sollte. Erster Punkt: Varia. So ging das den ganzen Tag. Es war frustrierend.
Wieder zu Hause angekommen, fragte ich mich: Sieht so ein utopisches Leben aus? Eine Absurdität nach der anderen? Eine Anstrengung nach der nächsten? Ich kam mir eingeengt vor, wie in einer Gefängniszelle. Ich lief immer noch im Kreis, einfach in umgekehrter Richtung. Es musste doch möglich sein, die Mauern zu sprengen, auszubrechen. Aber diese Mauern, so habe ich gemerkt, haben sich im Laufe der Jahre in mein Denken, in mein Fühlen und mein Wollen eingenistet. Die Mauern, das bin ich. Wie also komme ich da wieder raus? Wie kann es mir gelingen, meinen Geist zu befreien und wieder zum Kind zu werden?
Und genau dann beging ich einen Fehler. Ich dachte, ein Joint würde helfen und meinen Geist weiten. Also griff ich ins Geheimversteck, rollte mir eine schöne Tüte und liess mich ins Sofa fallen. Statt kindlich und kreativ wurde ich jedoch hungrig und müde. Ich hätte es wissen müssen. Nach zwei Stunden Schlaf bin ich dann aufgewacht, habe mich an den Computer gesetzt und mit diesem Text hier angefangen. Immer noch etwas benebelt. Weit kam ich nicht.
Am nächsten Tag aber, gestern also, geschah etwas Sonderbares. Ich habe einiges anders gemacht als sonst. Ganz ohne Utopie-Vorsatz, ohne Konzept und ohne Plan. Ich habe improvisiert. Mal so, mal so. Und wissen Sie was? Ich habe das leise Gefühl, dass meine Gedanken auf einmal mehr Platz haben. Mein Geist streckt seine Fühler aus. Selbstverständlich kann ich nicht ausschliessen, dass diese neu gewonnene mentale Flexibilität eine Langzeitwirkung des Joints ist. Ich vermute aber eher, der wohltuende Freiheitsspielraum meiner Gedanken belegt die These von Karl Marx, der behauptete: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Man muss das Leben verändern – erst dann kann das Denken in Bewegung kommen. Ein gläubiger Mensch hat mir einmal gesagt: Wenn du glauben willst, dann musst du so leben wie ein Gläubiger – dann kommt der Glaube wie von selbst. Vielleicht verhält es sich mit dem utopischen Denken ja genauso. Und selbst wenn nicht: Die Sache mit den E-Mails, die kann ich sehr empfehlen.
Yves Bossart
Der 1983 in Luzern geborene Yves Bossart hat Philosophie in Luzern, Zürich und Heidelberg studiert und in Berlin promoviert. Seit 2013 ist er als Redaktor und Produzent für die SRF-Sendung «Sternstunde Philosophie» tätig, die er seit 2017 auch moderiert. 2014 ist sein philosophisches Einführungsbuch «Ohne Heute gäbe es morgen kein Gestern» im Blessing Verlag erschienen. Yves Bossart lebt mit seiner Familie in Zürich.