Am einfachsten war der Morgen. Durch die halb gezogenen Jalousien vor dem Fenster warf die Sonne ihre Lichtstreifen ins Zimmer. Sie wanderten über die Dielen, hoch ins Bett, von seinen Füssen aus einmal über den Körper, bis sie bei seinem Gesicht ankamen und er blinzelnd aufwachte.
Sie war dann nie da. Auch wenn beide arbeiteten, verliess sie Stunden vor ihm das Haus, ohne dass er etwas davon mitbekam.
Meist arbeitete nur sie. Er hatte Zeit.
Ihm gefiel das Alleinsein am besten, wenn er mit der Nase auf dem Kopfkissen aufwachte, das nach ihr roch, in ihrer sorgsam eingerichteten Wohnung, wo jeder Gegenstand etwas mit ihr zu tun hatte.
Er stand schnell auf. Er schlug die Decke zurück, setzte seine Füsse auf den Boden, ging in die Küche und kochte Kaffee. Bevor die Kanne zu gurgeln begann, huschte er ins Badezimmer und putzte sich die Zähne. Mit der Tasse setzte er sich bei jedem Wetter auf den Balkon. Dort sah er den Leuten beim Vorbeigehen zu. Es war eine belebte Gegend, die sich vom zweiten Stock aus gut beobachten liess. Belebt in den Morgenstunden, den Mittagen, den Nachmittagen. Mit dem frühen Abend zog das Leben von hier aus woanders hin. In seine Gegend zum Beispiel. Diese mit Kindern und Vätern und Müttern gefüllten Strassen, auf die er kaffeetrinkend herabsah, ohne dabei eine bestimmte Regung zu verspüren, würden dann leer sein.
Und sie . . .
Sie war auch eine Mutter.
Daran dachte er nicht oft. Aber doch hin und wieder.
Manchmal, wenn sie von ihrem Sohn besucht worden war, oder in Zeiten, wenn sie sich wieder und zum letzten Mal in ihrem Leben verliebte, suchte er die Zahnbürste hier vergeblich. Der Beweis, dass es ihn gab, war aus dieser Wohnung einfach verschwunden. Sie reichte ihm dann eine neue. Sie sagte: Ich hätte nicht gedacht, dass du wieder kommst.
Dabei war er es sich gewohnt, wieder zu kommen. Fast hätte man sagen können, es war ein Talent von ihm. Andere waren gut im Kommen und Gehen, andere gut im Bleiben. Ihm lag das Wiederkommen.
Am einfachsten war der Morgen. Er verliess diese Wohnung und ging in sein Leben. Ein ganzer Tag, der nur ihm gehörte. Sie erwartete nicht, dass er irgendetwas darin mit ihr teilte. Sein Nichtstun, seine Bücher, sein Nachmittagsbier, seine Stunden, die ihm trotz aller Gegenwehr manchmal vorkamen, als seien sie vergebens gelebte Zeit.
Ihr Tag kannte einen anderen Rhythmus. Untereinander gab es keine Berührungspunkte. Manchmal hoffte er auf zufällige Begegnungen, dabei wusste er, dass es nicht im Wesen der Stadt lag, sie mehr als einmal zu gestatten.
So mündete ein Tag ohne sie in den nächsten und so weiter und so fort, bis sie wieder zusammenfanden, ein ganzer Abend und eine ganze Nacht.
Diese Stunden zerbröselten ihm zwischen den Fingern.
Nichts war besonders. Der Wein nicht teuer, ihre Kleider nicht fein. Sie assen Lasagne oder Pizza. Sie küssten sich vor dem Fernseher. Dort schliefen sie miteinander, ohne ihn auszuschalten.
Seine Haut schien sich immer sofort an sie zu erinnern.
Wie schön, sagte sie einmal, als sie auf dem Balkon sassen und in der Dämmerung Wein tranken, dass wir uns im Alleinsein haben. Aber ewig will ich nicht alleine sein. Was ist mit dir, willst du ewig alleine sein?
Aber ich habe doch dich. Erschrocken hielt er sich die Hand vor den Mund. Es war ihm einfach so rausgerutscht.
Du hast mich? Sie drehte sich von ihm weg, als er das sagte. So sollten wir nicht anfangen.
Er spürte, wie ihm Tränen aufstiegen. Plötzlich schämte er sich. Er schämte sich, wie er sich schon oft geschämt hatte, wenn er auf Knien über den Badezimmerboden ging, den Mülleimer durchsuchte, Schränke aufriss, weil schon wieder – schon wieder! – diese Zahnbürste einfach weg war. Er schämte sich, wie er sich geschämt hatte unter ihrer Rüge dafür, dass er ihre Bücher mit Eselsohren versah, statt Lesezeichen zu benutzen. Er schämte sich, obwohl er sich nie dafür geschämt hatte, manchmal mit dem zusammengeknautschten Kissen auf dem Balkon gesessen zu haben, es in seinen Armen haltend wie ein Kind, während der Tag auf der Strasse unten seinen Lauf nahm.
Ist das etwa mehr für dich, fragte sie. Sie drehte sich zu ihm um. Weine doch nicht, sagte sie. Bitte.
Es hat nichts mit dir zu tun, sagte er schnell.
Nein?
Nein. Es hat mit was ganz anderem zu tun.
Ja?
Ja. Ich bin ein bisschen durch den Wind. Ich fang mich gleich wieder.
Weil weisst du – sie betrachtete ihn –, ich finde, es ist gut so, wie es ist. Ist es nicht gut so, wie es ist? Sonst tut es doch nur wieder weh.
Er nickte. Es ist gut so, wie es ist. Es wäre schade, wenn es weh tun würde.
Am einfachsten war der Morgen. Er stieg aus dem Bett. Er ging in die Küche, wo er sich Kaffee kochte. Der Gasherd versagte ihm nie den Dienst. Mit der Tasse setzte er sich in die Sonne. Er sah den Leuten beim Vorbeigehen zu. Vielleicht würde auch er eines Tages sein wie sie. Ein Partner, ein Vater. Nicht mehr jung. Ein Leben führen, dem die Zugehörigkeit zu jemandem ein Loch in den Boden geschlagen hatte, und aus dem nun die Zeit rann, in einem gleichmässigen, ruhigen Strahl.
Vielleicht würde er . . .
Er ging zurück in die Küche, spülte die Tasse ab und stellte sie in den Schrank zu den anderen.
Er zog sich seine Hose an und stieg in seine Schuhe. Bevor er ging, nahm er sich seine Zahnbürste aus dem Becher und steckte sie in seine Tasche. Er schloss die Tür und warf den Schlüssel in den Briefkasten am Fuss der Treppe.
Er hatte sich ja ganz fest vorgenommen, er würde sich nicht an sie gewöhnen.
Yael Inokai
Die 28-jährige Basler Schriftstellerin hat in Basel und Wien Philosophie studiert. Seit 2014 macht sie ein Drehbuch-Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin, wo sie auch als Fremdenführerin im Flughafen Tempelhof tätig ist. Ihr Debütroman «Storchenbiss» erschien noch unter dem Namen Yael Pieren. Für ihr neues Werk «Mahlstrom» hat sie einen der Schweizer Literaturpreise 2018 erhalten.