Um drei Uhr morgens kam die Reue. Lucille schlug in ihrem Hotelzimmer die Augen auf. Nacht für Nacht wurde sie von der Vergangenheit geweckt, und die Bilder spulten sich ab. Die Einkaufsliste der Mutter, Tränenflecken zwischen Milch und Salz. Der Sohn mit der Schultüte, Unglauben im zarten Kindergesicht. Adrian. Socken. Ihr Fortgehen in Socken. Kniehohe, gestreifte, wollene. Wer in Socken ging, der wollte ungestört gehen. Nun lagen die Mutter und Adrian schon lange auf dem städtischen Friedhof, und Lucilles schlechtes Gewissen interessierte niemanden mehr. Ausser das Kind. Aber das hatte einen langen Atem. Mindestens so lang wie ihr Leben noch war.
Lucille seufzte. Sie bewegte den kleinen Finger. Wackelte mit den Zehen. Drehte ihren Kopf zum Fenster, das ihr die nächste Hauswand zeigte. Der Schmerz sass in Habachtstellung und liess sie gewähren. Also aufstehen, ja nicht liegen bleiben, sonst kam der Abgrund. Umziehen war nicht nötig. Bevor Lucille ins Bett ging, zog sie sich nach einer kurzen Katzenwäsche stets schon die Kleider für den nächsten Tag an. Von sogenannten Pyjamas hielt sie nichts. Zum Restaurant war es von hier aus nicht weit. 50 Meter von Tür zu Tür. Das dauerte drei Minuten, wenn es nur die Reue war, die im Körper dröhnte. Also in die Schuhe steigen, das Kissen und die Decke ordentlich arrangieren, den kleinen Beutel mit den gestrigen Kleidern über die Schulter werfen. Und dann hoffen, sich beim Treppensteigen nicht das Genick zu brechen.
Lucille klammerte sich ans Geländer und erinnerte sich – ab einem gewissen Alter erinnerte man sich ständig, andauernd, als gäbe es nichts anderes zu tun – an die frühen Jahre in der Kneipe. Als sie dort nur kellnerte, mit Adrian an ihrer Seite, und noch nicht die Patronesse war. Noch nicht müde davon, wenn die Gäste über das Leben klagten und sich sein Ende herbeisehnten. Lucille war es nie in den Sinn gekommen, sich den Tod zu wünschen. Sie hatte sich mit dem Leben in beidseitiger Gleichgültigkeit arrangiert. Unten angekommen, legte sie den Zimmerschlüssel auf die Theke. Die Rezeption war fast immer verwaist. Von niemandem in den Morgen entlassen, trat Lucille nach draussen. Fast freute sie sich über die Reibungslosigkeit der letzten Viertelstunde.
Es gab nämlich auch die anderen Tage. Der ganze Körper eine einzige offene Wunde. Sie nahm dann immer gleich so viele Schmerzmittel, wie sie mit den steifen Fingern aus der Packung knipsen konnte. Die schaffte sie auch ohne Wasser. Zwängte sie den Hals runter, auf dass sie im Magen ihre Wunder taten. Und dann schloss sie nochmal die Augen und wartete, bis der Körper bereit war, ihren Befehlen zu folgen. Die Mutter, das Kind und Adrian kratzten derweil an ihr und zogen sie mit sich in den Abgrund. Es schrie und tobte in ihr. Es war eigentlich kaum auszuhalten. Das Restaurant lag seelenruhig da. Schlief wie alle anderen in dieser Stadt.
Nur einmal spuckte die kaputte Lüftung einen Stoss alten Rauch aus. Schon von der Tür des Hotels aus sah Lucille durch die Fenster den roten Knopf der Kaffeemaschine. Treu leuchtete er ihr im Dunkel entgegen. Es war stets das Erste, was man den neuen Seelen, die zum Arbeiten kamen, ans Herz legte: Nie, unter keinen Umständen, darf diese Maschine je ausgeschaltet werden. Die Tür war das letzte Hindernis. An den schlechten Tagen war der Schlüssel ein delikates, lächerlich kleines Ding, dem ihre rheumatischen Finger nicht Herr werden konnten. Da fielen manchmal Tränen. Das machte nichts, das sah niemand. Und es kam vor, dass Lucille sich trotz der ausgemachten Gleichgültigkeit am liebsten auf den Boden gelegt hätte. Für immer. In ihrer Aufmachung war so ein Tod tendenziell überall und jederzeit möglich. Darauf legte sie Wert. Sie musste nur die Toilette und die Dusche überleben. Sonst stand einem gut gekleideten Abgang nichts im Wege.
Adrian, der mit hochgerutschtem Schlafrock aufgefunden worden war, hatte ihr diesbezüglich eine wichtige Lektion gelehrt. Aber die Tür kannte sie. Früher oder später gab sie ihrer Patronesse immer nach. Lucille stiess sie auf, ging zur Kaffeemaschine und goss heisses Wasser in ein Tässchen. Sie schaltete das Licht über der Eckbank ein. Sie füllte den Kolben, leerte das Tässchen und wartete, während unter Röhren ein dünner, schwarzer Strahl aus der Maschine rann. Mit dem Espresso setzte sie sich. Vor sechs trank sie nichts. Da hatte sie sich gut im Griff. Oder immerhin besser als auch schon. Sie friemelte eine Gitane aus der Schachtel und zündete sie an.
Die erste Schwade des Tages zog sich durch den Raum. Lucille spürte, dass das Stechen in der Herzgegend weniger wurde. Wie ein krankes Tier zog sich die Reue langsam zurück. Vielleicht lag noch etwas Schlaf drin, ein bisschen dösen, einfach die Augen schliessen und sich dieser Halbwelt hingeben, bis die Putzkraft um halb sieben den Staubsauger anwarf. Es ist schon in Ordnung, sagte sie sich bei der zweiten Zigarette. Sie spürte, wie ihr die Lider auf Halbmast abfielen. Es ist halt ein Leben. Eine jahrzehntelange Entzauberung. Aber die gehörte ihr.
Yael Inokai
Die Autorin, geboren 1989 in Basel, lebt in Berlin. Yael Inokai hat Philosophie in Basel und Wien studiert sowie Drehbuch an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin. 2012 erschien ihr Debütroman «Storchenbiss». Für ihren zweiten Roman «Mahlstrom» wurde sie mit dem Schweizer Literaturpreis 2018 ausgezeichnet. Yael Inokai ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift «PS: Politisch Schreiben » in Leipzig. Für ihren Roman «Ein simpler Eingriff» (2022) erhielt sie den Anna-Seghers-Preis.