Ein neuer Roman fängt in meinem Kopf mit einem Bild an. Davor habe ich lange nach dem gesucht, was die Geschichte sein könnte. Ein Gewirr an diffusen Ideen, Sätzen und Figuren ist fast immer da. Ich finde sie in Filmen, Musik und Beobachtungen auf der Strasse. Ich finde sie in alten Texten und fotografischen Notizen (Notizbücher führe ich keine – ich und meine Handschrift stehen uns nicht besonders nah).
Über Monate taste ich mich an ein neues Projekt heran. Ich suche im Gewirr, probiere dieses und jenes, muss feststellen: Es kommt nicht zusammen. Ich lese, sammle, streiche, sammle neu, bis ich irgendwann glaube, das Bild, mit dem es anfängt, zu haben – aber wenn es dann tatsächlich da ist, sieht es ganz anders aus, als ich erwartet habe.
Im Fall des Buches, an dem ich gerade schreibe, war es das: eine blaue Schachtel, gross genug für ein Paar Schuhe. Darin: ein halbes Dutzend Fläschchen Nagellack, drei Bücher, ein kleines Kaleidoskop und ein Deck Karten. Eine Frau hält die Schachtel in ihren Händen, und etwas an ihrem Griff sagte mir: Es ist nicht ihr Besitz, aber sie ist für diese Schachtel verantwortlich. Sie schien mir stolz darauf zu sein. Ich wusste sofort, dass sie die Protagonistin meines neuen Buches sein würde. Was ich nicht wusste, war: Wer ist sie?
Wer ist eine Figur? Am Anfang gibt es für mich keine Charaktereigenschaften. Zu sagen, jemand sei störrisch oder laut, käme mir vor, als würde ich diesen jemand von aussen mit Attributen behängen, ohne ihn oder sie zu kennen. Es gibt am Anfang auch noch keine Familie, keine Herkunft, keine Beziehungen, nichts, wovon meine Figur träumt. Es gibt vielleicht eine Haarfarbe, eine Art, wie sie guckt. Und es gibt eine Frage, mit der alles andere angestossen wird: Was trägt sie?
Ich denke in Bildern. Gesten, Blicke, Licht, Farben, Räume, Gegenstände, Kleidung … lange bevor ein Satz da ist. Das ist ein Stück weit meiner grossen Leidenschaft geschuldet, dem Kino. Dem damit verbundenen Wunsch, sich rücklings in eine andere Welt fallen zu lassen und dabei vielleicht auch etwas über die tatsächliche zu verstehen. Mein Studium an der Filmakademie hat dann sein Übriges getan. Ich denke in Bildern, also sollte ich Filme machen? Nein, für mich ist diese Rechnung nie aufgegangen. Das Kino ist die Sprache der Sinne. Jene Sprache, die ich stets versuche, in Texte zu übertragen. Um auch aus ihnen alles an Sinnlichkeit rauszuholen.
Da war also diese blaue Schachtel. Da war diese Frau, die sie hielt. Ein paar Tage, nachdem ich sie vor mir gesehen hatte, fuhr ich mit dem Fahrrad den Ku’damm ab, so weit, bis er in Halensee sein Grossstadtgesicht verliert und ausfranst. Ich besuchte ein kleines Geschäft, das Kleidung von der Jahrhundertwende an führt.
Ich bin oft hier. Manchmal, um für mich selbst einzukaufen, und öfters wegen der Geschichten, die mir die Kleidung über die Zeit erzählt, in der sie gefertigt wurde.
Als ich kam, um nach Kleidung für meine Protagonistin zu suchen, hing eine senfgelbe, weit geschnittene Jacke über der Garderobe. Ein fröhliches Stück der Nachkriegszeit, als Stoff nicht mehr knapp war. Daneben hing eine Hose aus den Vierzigern aus grauer Wolle, die den Reisverschluss seitlich hatte, weil es damals noch als obszön galt, wenn Frauen, die man ohnehin lieber von Hosen ferngehalten hätte, ihr Beinkleid mittig im Schritt schliessen. So viel Geschichte in so wenig Stoff.
Eine Weile ging ich die Sachen durch, bis ich auf ein Kleid stiess, ein unauffälliges, hochgeschlossenes, eins, was einen wohl einmal als gutes Mädchen auswies. Ich wusste, es passte zu ihr: der Frau mit der blauen Schachtel.
Was wir tragen, erzählt nicht nur über uns, sondern auch über die Gegenwart, in der wir leben. Es erzählt von unseren Gepflogenheiten, unserem gesellschaftlichen Kodex, unserer Vorstellung davon, wie ein weiblicher, wie ein männlicher Körper auszusehen hat – oder wie man diese Zuweisungen auch verlassen kann. Mode erzählt von Handel, von Wohlstand, von Armut, von Klasse. Von Restriktionen und Befreiung. Von den vielen verschiedenen Rollen, die man als Mensch in seinem Leben innehat.
Das war also eins ihrer Kleider. Ihr Kleid, das sie als Tochter trug. Was noch? Wer war sie sonst? Ich blieb an einem anderen Kleid hängen, einem weissen, aus dickem Stoff. Es erinnerte mich an eine Uniform. Auch das passte zu ihr.
So verliess ich das Geschäft wieder. Bald würde es in meinem Kopf zu arbeiten beginnen. Ich würde wissen, welche der Themen, über die ich schreiben wollte, diesem Roman zugrunde lägen. Aus dem Bild der blauen Schachtel und der Frau wird ein Raum, aus dem Raum ein Haus, aus dem Haus ein Ort und aus einem Ort eine bevölkerte Welt.
Ich musste mich lediglich etwas gedulden. Weiter sammeln, streichen, schreiben, schreibend herantasten, schreibend kennenlernen, Geschriebenes verwerfen; nein, das ist es nicht. Aber vielleicht das? Manchmal kommt mir Schreiben wie eine einzige Annäherung vor.
Irgendwann sah ich sie ganz klar: Sie trägt ein schlichtes, häufig geflicktes Kleid, das ihr wenig bedeutet. In einer Umkleide streift sie es ab. Sie nimmt ein weisses Kleid aus dem schmalen Schrank. Eine Schwesternuniform. Sie ist also eine Krankenschwester. Sie steigt hinein und knüpft sie mit aller Sorgfalt zu. Sie lässt sich von einer anderen Frau die Schürze binden (nur eine Arbeitskollegin?). Sie dreht ihre Haare in einen Knoten. Sie setzt die kleine weisse Haube auf. Und dann passiert etwas mit ihrem Körper. Als hätte sich eine unsichtbare Hand an ihre Wirbelsäule gelegt und sie um ein paar Zentimeter aufgerichtet. Sie legt ihre Schulterblätter zurück. Sie atmet. Atmet in dieses starre Kleid hinein. Wenn sie eine Krankenschwester ist, fühlt sie sich beschützt. Dann ist sie stolz.
Sie betrachtet sich kurz im Spiegel. Sie geht zur Tür hinaus.
Ich ging ihr hinterher.
Yael Inokai
1989 in Basel geboren, hat Yael Inokai Philosophie in Basel und Wien studiert. Anschliessend absolvierte sie den Studiengang Drehbuch an der Deutschen Film- und Fernsehakademie. Sie ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift «PS: Politisch Schreiben – Anmerkungen zum Literaturbetrieb». Ihr Debütroman «Storchenbiss» erschien 2012 unter dem Namen Yael Pieren. Für ihren zweiten Roman «Mahlstrom» erhielt sie einen Schweizer Literaturpreis 2018.