Das Festivalprogramm von Ernen zeigt ab 1. Juli grenzenlose Musikräume auf, ist aber kein simpler Akt der Grenzüberschreitung: Wo andernorts unter ähnlichem Titel eine Nivellierung des Programms in Kauf genommen wird, nutzt ihn die Cellistin Xenia Jankovic zur inhaltlichen Schärfung.
Wer sich in Ernen ab 31. Juli in die «Kammermusik plus»-Woche wagt, wird hochelegant die Grenzen zur Volksmusik verschwimmen sehen, sind doch die «Volksmusiker» Franz Schubert und Béla Bartók die Protagonisten. Jankovic weist auf die Weite dieses Konzertes hin – durchaus eine grenzenlose: «Musik kennte viele Möglichkeiten, Grenzen zu öffnen. Bartóks ‹Mikrokosmos› öffnet unsere Wahrnehmung der Zeit und des Raumes – wir werden in die Unendlichkeit transportiert, in den Kosmos, wo es keinen Anfang und kein Ende gibt.» Durch die Musik von Schubert würden wir fast in eine Trance versetzt: «Es sind sehr lange Musikstücke, aber so wunderschöne, dass man die Zeit vergisst und den Raum nicht mehr spürt.»
Poetisch lenkt Jankovic so davon ab, wie genau das Programm den Volksmusikspuren folgt, da doch in den Folgekonzerten die Volksmusikbrücken auch zu Antonín Dvorák, Johannes Brahms, Leos Janácek, Joseph Haydn oder Georges Enescu geschlagen werden. Schön, wie gerade diese vermeintlichen Nationalkomponisten auch über ihre Landesgrenzen schauen: Da schreibt der Wiener Brahms «Ungarische Tänze», der Ungare Bartók rumänische.
Wichtiger Begleiter
Für Jankovic liegen die Wurzeln aller grossen Sinfonien, Streichquartette und Opern in der Volksmusik. «Seit mehreren Jahrtausenden hat Musik immer und in jeder Gesellschaft existiert. Es scheint, dass die Musik für die Menschen der wichtigste Begleiter ist.» Jankovic spinnt den Gedanken weiter und sagt pathetisch märchenhaft: «Die ganze Menschheitsgeschichte steckt in der Volksmusik: Sie ist eines der wertvollsten Dinge, die auf der Welt existieren.» Aus diesem grossen Gedanken folgt der nächste, ist sie doch überzeugt, dass es keine Rolle spielt, aus welchem Land Musik stammt oder in welcher Zeit sie entstanden ist, denn Musik nachempfinden könne jeder Mensch. «Viele Grenzen verschwinden lautlos, dank der Musik erfahren wir andere Welten und ferne Epochen.»
Hin zum Mystischen
Grenzen werden im Musikdorf Ernen auch aufgelöst, wenn die Neue Musik in aller Natürlichkeit in die Kirche hineinspaziert. Im Programm tauchen mit Arvo Pärt (*1935), Alfred Zimmerlin (*1955), Helena Winkelmann (*1974) und Sally Beamish (*1956) gleich vier lebende Komponisten auf. Der Zürcher Alfred Zimmerlin ist Composer in Residence, er schreibt für Ernen ein Konzert für E-Bass und 14 Streicher. Er hat ein Werk für jenes Instrument geschrieben, das im Hintergrund von Jazz, Rock, Blues, Country, Pop und Schlager den Ton angibt. Wie lautet nochmals das Festivalthema …?
Mit dem Werk Arvo Pärts zeigt sich hingegen Grenzenlosigkeit für Jankovic nochmals in einem anderen Sinn: «Er schreibt sakrale Musik aus unserer Zeit. Somit wird auf eine der wichtigsten Aufgaben der Musik in ihren Anfängen verwiesen – und gleichzeitig geschieht eine Öffnung zum Mystischen.»
Dass sich fast alle diese Ideen in einem Abend vereinen, über dem explizit das Wort «Volksmusik» steht, ist typisch für Ernen. Protagonistin ist hier nämlich Iva Bittová, eine 57-jährige tschechische Geigerin und Sängerin: Sie hat sich gewünscht, mit der ganzen Musikdorf-Familie zu musizieren und zu improvisieren (7. August). Nur wenige spazieren so frei und grenzenlos durch die Musikwelt wie die Klangträumerin Bittová. Als Schweizer murmelt man da schnell mal ein «Grenzwertig» – und erntet dafür von Programmleiterin Jankovic ein erlösendes und lachendes «Genau!»
Kammermusik plus
So, 31.7.–Sa, 13.8. Ernen
Künstlerische Leitung: Xenia Jankovic
www.musikdorf.ch
Musikdorf Ernen
Grenzenlos: Der Name ist Programm
Wer dieses Jahr in Ernen in die Kirche schreitet, wird eine Eintrittskarte vorzeigen müssen – so viel Grenze gibt es im Musikdorf Ernen trotz des Festivalthemas «Grenzenlos» schon. Ansonsten zieht sich das Motto durch die Klavierwoche und die Barockwochen. Festivalchef Francesco Walter hat den Titel für sein Festival 2016 gewählt. Er muss sich nun fragen lassen: «Sind Sie naiv oder politisch, Herr Walter?»
Der Alltag hat das Musikdorf Ernen eingeholt. Und das ist in Ordnung so. Denn das «Grenzenlose» wird hier gelebt, man ist eine grosse, internationale Festivalfamilie. Denkwürdiges Detail: Pianist György Sebök (1922–1999) etwa, der Gründer vom Musikdorf Ernen, war ein Flüchtling. Er kam 1956 aus Ungarn in die Schweiz. Bezeichnenderweise sagt Walter: «Als politisches Thema beschäftigt uns Grenzenlosigkeit seit eh und je. Somit kann man unser künstlerisches Festivalthema ‹Grenzenlos› indirekt auch als ein politisches Bekenntnis auffassen.»
- «Grenzenlos» ist die Eröffnung des Festivals mit «Kammermusik kompakt» in seinem Überschwang.
- «Grenzenlos» sind auch die vier Abende der Klavierwoche in ihrer programmatischen Vielfalt.
- Die Barock-Woche ist es dank der Entdeckerlust von Ada Pesch und Deirdre Dowling seit eh und je.
Kammermusik kompakt
Fr, 1.7.–So, 3.7.
Klavierwoche
Sa, 9.7.–Fr, 15.7.
Barock
So, 17.7.–Do, 28.7.