Dichter haben gut reden. «Bleibe nicht am Boden heften / Frisch gewagt und frisch hinaus!», ruft Goethe in die Welt – und los geht die Reise. Nichts einfacher als das und nichts Schöneres, als rund um das Thema «Reisen» eine festliche Kammermusikwoche zu gestalten. Das Wandern ist schliesslich des Müllers Lust, wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt. Aber was, wenn es kalt wird und schon bald Schuberts «Winterreise»-Leiermann seine traurige Weise spielt? Richard Wagners Dampfer erleidet auf der Reise nach London fast Schiffbruch in der Ostsee, Mozart flucht 1772 über die unbequemen Kutschen: «Mich hungert, mich durst, mich schläffert, ich bin faul».
Der Klang einer fremden Stadt
Die Optimistin Xenia Jankovic, die einmal mehr das Programm der Kammermusikwoche für das Musikdorf Ernen im Wallis konzipiert hat, erkennt im Unheil auf Reisen nicht gerade etwas Positives, aber eine Art Natürlichkeit. «Das Leben von Genies wie Mozart, Beethoven oder Schubert war bisweilen eine Art Opfer für die Musik und die Kunst – und vor allem für die Menschen, die diese Kunst so bereichert.»
Doch hinweg die dunklen Gedanken. Nikolaus Harnoncourt hat einst gesagt, es sei herrlich, auf einem italienischen Platz zu stehen, da höre er schon fast eine Oper von Monteverdi. Doch gibt ein Land, eine Stadt tatsächlich der Musik ihren Klang? Xenia Jankovic ist in ihrem Kammermusikprogramm auch dieser Frage nachgegangen. Für Komponisten und Musiker war es seit jeher wichtig, anderen Musikern in fremden Ländern zuzuhören, auch wenn das Reisen an sich meist mit der Hoffnung auf Geld zu tun hatte.
Dieser Austausch ist für Jankovic, die 1958 in Serbien geborene Cellistin, auch in einem humanistischen Sinn essenziell. Und so sagt sie nicht ohne besorgten Unterton: «Bestimmt ist die intellektuelle und emotionale Flexibilität – das Einfühlungsvermögen von jedem von uns in der jetzigen Weltsituation – besonders wichtig.»
«Musik kann die Menschen verbinden»
Mit diesem Gedanken könnte man eine Brücke zurück zum Festivalthema 2016 («Grenzenlos») schlagen und fragen: «Wie könnte unsere ganze Zivilisation eine Entwicklungsstufe erreichen, in der wir uns nicht begrenzen und abgrenzen, sondern in Frieden zwischen verschiedenen Religionen, Nationen und Klassen leben?» Xenia Jankovic deutet eine Antwort an: «Musik kann die Menschen berühren und verbinden.»
In ihrem aktuellen Programm geht es um Reisen in die verschiedenen Länder, an Orte und in Zeiten, um Reisen aber auch durch die Musikgeschichte und die unterschiedlichsten Instrumente. Doch Jankovic denkt weiter: «Es sind auch die Reisen in die inneren Welten: Märchen, Geschichten, historisch bedingte Stimmungen, Erlebnisse der Komponisten, Dichter und Interpreten. Ebenfalls Reisen in die Natur, erlebt von innen und aussen.»
Das meint Jankovic so, wie sie es sagt: Die Musikreisen in Ernen gehen bis in die Materie hinein, in Wasser, Berge und Felsen. In der Musik spiegle sich letztlich die ganze Welt. «Der Fluss, die Bewegung, der Rhythmus, die Veränderung, die Stabilität und vor allem diese unendliche Vielfalt», sagt Jankovic. «Jeder Klang, jeder Berg, jeder Mensch, jeder Künstler, jeder Stein, jeder Tag, jeder Moment – alles lebt von den Unterschieden und Kontrasten, alles ist einmalig und einzigartig. Wir können auch durch die Musik diese Vielfalt erleben und bereisen.»
Antonín Dvorák fährt nach Amerika – und beginnt zu komponieren: Halb werden seine Werke, wie das in Ernen zu hörende Streichquartett, zu Reiseerzählungen, halb träumt er darin von seinem geliebten Europa. Und erzählt Peter Tschaikowsky in seinen «Souvenirs de Florence» tatsächlich nur von Florenz? Wie lässt sich das festmachen, fern der farbenreichen Stimmung und Barkarolen-Anlehnungen, die er in sein 1890 in Russland geschriebenes Werk einbaute? Reizvoll ist da, dass dank Giovanni Sollimas «Viaggio in Italia» in Ernen zu hören ist, wie eine Italienreise heute klingt.
Volksmusik als Inspirationsquelle
Xenia Jankovic erkennt in all diesen drei Reise-Werken eine Verbindung zur Volksmusik: «Sie ist eine der wichtigsten Inspirationsquellen für viele Komponisten.» In Ernen widmet sie ihr erneut einen ganzen Festivalabend. Doch nicht in jedem Werk ist ein Posthorn zu hören, Mozarts «Posthorn»-Serenade sucht man sogar vergeblich im Programm. Für Musiker übrigens kann jedes Konzert eine Reise werden, wie Musikerin Jankovic verrät. «Bevor Musiker die Bühne betreten, sagen sie oft zueinander: «Gute Reise».
Musikdorf Ernen – Kammermusik plus
So, 30.7.–Sa, 12.8.
Kirche Ernen, Stockalperpalast Brig, Fondation Pierre Gianadda Martigny VS
www.musikdorf.ch
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