Eisige Kälte liegt über Altdorf. Die Gassen sind leer, die Beizen voll. Es ist kurz vor Mittag, und im warmen Probenraum des Theater Uri herrscht reges Treiben. In der Mitte steht einer und berichtet lautstark fuchtelnd vom Wysel, diesem Tausendsassa, der gerne gejodelt und getubakt habe und den Frauen den Kopf verdreht. Den Zugereisten verdreht es schier die Ohren ob den urchigen Silben, die Walter Sigi Arnold von sich gibt. Der Altdorfer Schauspieler spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, und das klingt schon wie Musik.
Multimedia-Werk
Arnold probt mit Christoph Baumann, Rätus Flisch und Marco Käppeli, drei gestandenen Jazzern aus Zürich und Luzern, die ihn mit beswingt-lüpfigen Weisen begleiten. Immer wieder brechen sie ab und diskutieren, wie Musik und Text besser zusammenfinden könnten.
«Eine diffizile Sache», weiss Franz-Xaver Nager, der den Besucher sachte aus dem Raum zupft. Die Proben zu «Wysel» seien in der entscheidenden Phase, erklärt der 60-jährige Autor und Produktionsleiter dieses Musiktheaters, das in der Innerschweizer Presse liebevoll als «Ländler-Musical» bezeichnet wurde. «Damit kann ich leben», sagt Nager. Doch bald wird klar, dass es sich bei «Wysel» um ein komplexes Multimedia-Werk handelt. «Wir lassen verschiedene Ebenen ineinanderfliessen», erklärt Nager und klappt zur Veranschaulichung sein Notebook auf mit Partituren, die aussehen wie der gesamte SBB-Fahrplan auf einen Blick. Das gut 90-minütige Stück ist im
30-Sekunden-Takt durchkomponiert, wobei nicht nur das Zusammenspiel von Text und Musik klappen muss.
«Eigentlich erzählen wir eine ganz einfache Geschichte», holt Franz-Xaver Nager aus, der Musikethnologie studiert hat. Später baute er an der Hochschule Luzern den Studiengang Volksmusik und in Altdorf das Haus der Volksmusik auf. «Es geht um den Boom der Ländlermusik in der Zwischenkriegszeit, als viele Bauern sich als Musikanten ein Zubrot verdienten.» Die Schweizer Volksmusik habe damals ein grosses Publikum begeistert und sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt: «Die Kapellen spielten auch Foxtrott, Walzer und dergleichen.» Nach dem Zweiten Weltkrieg erholte sich die Schweizer Wirtschaft sprunghaft, und das «Musigen» wurde wieder zur Feierabendbeschäftigung. Der Aufschwung von Jazz und Pop verbannte den Ländler endgültig in die Exotenecke.
Auf zur Sennechilbi
Aus den wenigen erhaltenen Dokumenten sowie Gesprächen mit Musikern und deren Nachkommen hat Nager den «Wysel» geschaffen: «Der Name ist eine Referenz an den Flüeler Alois Müller. Dieser wanderte nach Zürich aus und feierte dort Erfolge als Arrangeur und Geiger beim legendären Stocker Sepp.» Sein Wysel aber, betont Nager, sei eine fiktive Gestalt, für den genauso gut der Bündner Jost Ribary oder der Schwyzer Kasi Geisser Pate stehen könnte.
Nagers Wysel macht an der Sennenchilbi Bürglen auf sich aufmerksam, wo er sich in die Frauenherzen jodelt. Als umjubelter Geiger reist er nach Luzern, Zürich, Berlin und gar Paris. Doch wer derart hoch aufsteigt, fällt umso tiefer. Für Wysel kommt das Ende abrupt.
Nager hat Erfahrung mit solchen Stücken. In den 90er-Jahren hat er mit Jazzer Christoph Baumann und Lichtkünstler Rolf Derrer erfolgreiche Produktionen wie «Attinghausen» oder «Ds Gräis» realisiert. Mit dem gleichen Team macht er nun den «Wysel» – diesmal ohne Laien.
Bunte Truppe
Zu den Jazzern gesellen sich Posaunist Bernhard Bamert, Saxer Adrian Pflugshaupt, Klassiktrompeter Basil Hubatka, Schwyzerörgeler Marcel Oetiker sowie die Volksmusikjazzer Hans Hassler am Akkordeon und Noldi Alder, der – jodelnd und geigend – den Wysel spielt. «An Hochschulen und auf Bühnen wachsen derzeit alle Künste zusammen. Da musste ich etwas Volksmusikalisches beitragen», so Nager zum Anreiz, nach 13 Jahren wieder ein Musikstück zu realisieren.
Nicht nur musikalisch wird bei «Wysel» auf verschiedenen Hochzeiten getanzt. Walter Sigi Arnolds Urner Erzähltext erinnert in seiner Rhythmik an moderne Slampoeten. «Zusätzlich bringen wir Bildebenen ein und haben hierfür junge Akteure gefunden», sagt Nager und lädt zu einem Besuch «backstage».
Die Bühne des Theater Uri ist riesig. 1925 wurde es als Tellspielhaus gebaut und feiert diesen Sommer 500 Jahre Tellspiele Altdorf. Wo sonst bemalte Kulissen Hohle Gasse und Urnersee vorgaukeln, finden sich Gebirge aus elektronischen Geräten. Rolf Derrer und Eduardo Santana bespielen mit starken Beamern drei Leinwände, die ein dreidimensionales Bühnenbild ergeben. Darauf sind Bilder des Luzerner Illustrators Lorenz Rieser zu sehen: kunstvoll gemalte Szenen aus Wysels Leben. Aus diesen rund 200 Tafeln – eine Auswahl davon ist in Altdorf als Open-Air-Ausstellung zu bewundern – gestaltet Eduardo Santana mit elektronischen Animationsprogrammen eine bewegte Bildergeschichte.
Die Paarung alt und neu habe ihn stets fasziniert, sagt Franz-Xaver Nager. «Unser ‹Wysel› kombiniert eine alte, fast vergessene Thematik mit formaler Innovation.» Die Geschichte vom jodelnden und fiedelnden Bauernbuben, der über Nacht bekannt wird, ist aktuell. Er geniesst das Leben, die Frauen sowie manch anderes und stürzt dann jäh ab. «Der Wysel ist ein um 100 Jahre verfrühter Rockstar», lacht Franz-Xaver Nager und klappt sein Notebook zu.