Das machen nur Wunder möglich. Ein mausarmer Junge schnappt sich in den 1970er-Jahren auf einer Güseldeponie in Südamerika weggeworfene Bücher, bringt sich das Lesen bei und kriegt Unterstützung von Jesuitenpriestern: «Jemand sollte dem Müllkippenleser ein paar gute Bücher bringen – Gott weiss, was der Junge auf seiner Halde für Lesestoff findet!», so der Beweggrund der barmherzigen Männer. Der hochbegabte Junge heisst Juan Diego, ist 14 Jahre alt und lebt mit seiner hellsichtigen 13-jährigen Schwester Lupe in einer Hütte beim «Jefe», dem Chef der Deponie. Ob dieser der Vater ist, bleibt ungewiss.
Mirakel im Alltag
Das ungewöhnliche Geschwisterpaar steht im Mittelpunkt des neuen Romans «Strasse der Wunder» des US-amerikanischen Schriftstellers John Irving. Ihr Leben erschliesst sich dem Leser über die Träume des mittlerweile 54 Jahre alten Protagonisten Juan Diego. Als gestandener Schriftsteller ist er gerade beruflich auf den Philippinen unterwegs – mit Viagra und Betablockern im Gepäck. Diese machen ihn schläfrig und beeinträchtigen seine Träume: Es sind Erinnerungen an seine schicksalhafte Zeit in Mexiko, wo die Kinder neben stinkendem Abfall hausen, umgeben von Prostituierten, Drogenabhängigen, Kleinkriminellen – und Priestern. Der beste Nährboden für Mirakel, wie sie der US-Bestsellerautor Irving beschreibt.
Ungereimtheiten, Frömmigkeit, vermeintliche Barmherzigkeit und Wunder: Themen wie diese greift der 74-jährige Irving auf und teilt immer wieder gezielte Seitenhiebe an die Adresse der katholischen Kirche aus. So verliert Juan Diego schon mit 14 Jahren seine Mutter Esperanza. Die Prostituierte und beste Putzfrau der Jesuiten ereilt das Schicksal beim Abstauben einer riesigen Madonna-Statue. Ihre Kinder sehen es: «Ein böser Blick (der Monster-Maria), der zwischen Esperanzas hübschem Gesicht und ihrem Dekolleté (dem wohl etwas zu tiefen) hin und her ging». Dann stürzt Esperanza von der Leiter und ist tot.
Liebe im Leben
Die beiden Waisen werden in einen Zirkus verfrachtet, wo Lupe beim Füttern der Löwen zu Tode kommt. Juan Diego ereilt ein günstigeres Schicksal, der schwule Jesuitenpater Eduardo und der Transvestit Flor übernehmen das elterliche Sorgerecht und ermöglichen dem talentierten Juan Diego eine Laufbahn als Schriftsteller in den USA.
Der Autorenalltag des mittlerweile gealterten Protagonisten, der im Roman von einem noblen Hotel ins nächste jettet, birgt wenig Erquickendes. Das öde Leben eines gealterten Mittfünfzigers in der Krise, denkt die Leserin und verliert sich streckenweise in der Spannungslosigkeit dieses Männerdaseins. Da helfen selbst die beiden sexbesessenen Liebhaberinnen nicht drüber hinweg, die Juan Diego mit allen Mitteln der Macht – vornehmlich Viagra – verführen.
Wie Chili-Schokolade
Der Roman «Strasse der Wunder» halte wenig Neues und Überraschendes bereit, werfen Kritiker John Irving vor. Waisenkinder, schüchterne Männer, starke Frauen, Prostituierte: Der in Toronto lebende Schriftsteller lässt sie, wie schon in seinen Romanen zuvor, auftreten. Dem Lesegenuss tut dies keinen Abbruch. Die Ironie, mit der Irving die skurrilen und wundersamen Begebenheiten erzählt, ist so fein, zart, bitter, so süss und scharf zugleich wie ein Stück
Chili-Schokolade.
Lesung
Sa, 28.5., 20.00 Schauspielhaus Zürich
John Irving
«Strasse der Wunder»
784 Seiten
(Diogenes 2016).