Zoli aus der serbischen Vojvodina ist ein feinfühliger Bursche – ein blauäugiger Träumer, ein Fantast, der am liebsten schöne Worte in sein Notizheft schreibt oder seine Rosen im Garten pflegt. Seine Eltern sähen ihn hingegen lieber als echten Kerl. Zur Weissglut treiben sie auch seine unerklärlichen Zitter- und Ohnmachtsanfälle, sein Stottern und seine Aussetzer. Und auch sein Bäckermeister hat keine Geduld: Er degradiert ihn zum Hilfsarbeiter, weil einer, der an der Teigmaschine rumzittere, nicht zum Bäcker tauge. «Idiot», «Lump» und «Taugenichts» sind noch die harmlosesten Ausdrücke, die sich Zoli von allen Seiten anhören muss.
Die letzte Chance
Das Aufgebot ins Militär sehen alle als letzte Chance, endlich einen echten Mann und Helden aus Zoli zu machen. «Die Armee wird dir das Zittern austreiben», ist sein Vater überzeugt. Doch alles, was der harte militärische Alltag ihm austreibt, ist der letzte Rest an Lebensfreude. In diesem hierarchischen Umfeld, wo blinder Gehorsam verlangt wird, verkümmert sein ganzes Wesen. Unterstützung erhält er nur von seinem Kameraden Jenó. «Du sollst ein Hasser werden, ein Frustrierter, der es nicht merkt, einer, der tagelang marschiert, sich im Schlamm wälzt und dann mit heissem Gesicht salutiert», warnt er ihn und rät ihm, nie seine Furcht zu verlieren. Doch dann kommt Jenó selbst unter die Räder – und sein Freund Zoli fühlt sich schuldig daran … Als bei Zoli Epilepsie diagnostiziert wird, hat er innerlich bereits aufgegeben – im Wissen, den Erwartungen seiner Eltern nicht zu genügen, und überzeugt von seiner Mitschuld an Jenós Schicksal.
Erzählt wird Zolis Geschichte von ihm selbst in einer Retrospektive. In ihrem Stück wechselt Melinda Nadj Abonji, die in dieser Saison als Hausautorin am Theater Basel tätig ist, zwischen erzählerischen und erlebten Momenten, zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem. Die ungarisch-schweizerische Buchpreisträgerin Abonji, die mit fünf Jahren aus der damals jugoslawischen Vojvodina in die Schweiz kam, bezieht sich in «Schildkrötensoldat» auch auf reale, biografische Hintergründe.
Innerer Reichtum
Der 35-jährige Basler Regisseur Patrick Gusset legt in seiner Inszenierung den Fokus auf Zolis Innenwelt. «Mich hat besonders der Berührungspunkt interessiert, an dem Zolis fantastischer innerer Reichtum auf die reale Aussenwelt prallt», sagt er. Dieser Kontrast werde auch im Bühnenbild und den Kostümen mit Überhöhungen und Überzeichnungen sichtbar. «Der Zuschauer blickt mit Zolis Augen auf die Bühne. Seine ganz eigene Wahrnehmung und Sprache steht der realen Aussenwelt gegenüber.» So entsteht beispielsweise anstatt eines Blumenbeets ein Blumenhimmel, der von oben herabhängt.
Gusset teilt die sieben Figuren auf die drei Schauspieler David Berger, Joanna Kapsch und Andreas Bittl auf. Begleitet werden sie live von den Musikern Jannik Giger und Lukas Huber.
Im Stottermodus
Ein wichtiger Teil ist die Sprache, die im Stottermodus des Protagonisten Zoli rhythmische Elemente hat und ein Abbild seiner fantastischen Welten ist. «Ich habe in den Worten immer einen Unterschlupf gesucht, ein Schlupfloch …», sagt Zoli an einer Stelle im Stück. In seinen Gedanken kreiert er seine eigenen Wörter – was es etwa mit dem titelgebenden «Schildkrötensoldat» auf sich hat, erfährt der Zuschauer erst am Ende.
Schildkrötensoldat
Premiere: Fr, 16.5., 20.00
Theater Basel
Drei Fragen an Melinda Nadj Abonji - «Die Sprache als Kulturschutt und Imaginationsraum»
kulturtipp: Wie ist das Stück «Schildkrötensoldat» entstanden? Beinhaltet es – nebst dem Ort, an dem es spielt – weitere biografische Bezüge?
Melinda Nadj Abonji: Nachdem einer meiner Cousins durch das Militär sein Leben verloren hat, wusste ich schon lange, dass ich irgendwann über die Armee schreiben würde. Im Sozialarchiv bin ich durch Zufall auf die Geschichte zweier Männer gestossen, die in der (Schweizer) Rekrutenschule ums Leben gekommen sind. Im Text habe ich die drei Schicksale miteinander verwoben – diesen drei jungen Männern ist «Schildkrötensoldat» auch gewidmet. Da die Armee grösstenteils über die Exklusion des Weiblichen funktioniert, habe ich zahlreiche Gespräche mit Freunden geführt, um mehr über diese «Terra incognita» zu erfahren.
Es geht unter anderem um Männlichkeitskonstruktein einem militärisch-hierarchisch geprägten Umfeld. Welche weiteren Themen möchten Sie im Stück ansprechen?
Über die stotternde Hauptfigur Zoltán (Zoli) wird die Sprache grundsätzlich anders erfahrbar. Indem Worte in Silben und Buchstaben zergliedert werden, wird Sprache als Mittel der Zurichtung erkennbar, hörbar; andererseits aber ist die Sprache der Hauptfigur durchdrungen von Fantasie und Erfindungsreichtum. Sprache ist also in all ihren Facetten präsent, als Kulturschutt und als Imaginationsraum. Ausserdem hat mich die Frage interessiert, wie die traditionelle Geschlechterorganisation und die christliche Ethik dem kriegerisch-hierarchischen Denken zudienen.
Die Hauptfigur Zoli hat eine grosse Fantasie und eine ganz eigene Sprache. Wie sieht dazu Ihrer Meinung nach eine geeignete Umsetzung auf der Bühne aus?
«Geeignet» ist ein schwieriger Begriff. Ein Formulierungsversuch, der mit Peter Handke zu tun hat: Gibt es eine Analogie zum Sprachkörper des Textes, sozusagen einen Resonanzraum des Geschriebenen auf der Bühne, der die Schauspieler dazu bringt, durchlässig zu sein, aus der Sprache heraus die Bewegungen zu finden – und nicht zu spielen? Im Grunde genommen hatte ich immer das starke Gefühl, dass «Schildkrötensoldat» als Puppenspiel umgesetzt werden muss.