Dass eine Heimat und ein politisches System über Nacht verschwinden können, ist eine Erfahrung, die sich in Westeuropa kaum jemand vorstellen kann. Alles, worauf das Leben einmal aufbaute, war plötzlich weg – der Neuanfang wurde nicht selten arrogant vom Westen diktiert. Was das mit den Menschen gemacht hat, darüber unterhalten sich die zwei Ostdeutschen Jana Hensel und Wolfgang Engler in ihrem Gesprächsbuch «Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein».
Bestsellerautorin und Journalistin Hensel war 13 Jahre alt, als die Mauer fiel – Engler, ehemaliger Rektor der Berliner Ernst-Busch-Schauspielschule und Lehrbeauftragter an der Universität St. Gallen, war 37. Sie ist die Linksliberale, für die der «Flüchtlingsherbst» 2015 «für Deutschland ein historisch strahlender Moment» war. Er ist Linkskonservativer, der darin eine «tiefgreifende Krise der politischen Repräsentation» sieht.
In ihrem lebendigen Austausch über die ost-west-deutsche Gegenwartsgeschichte geben die beiden Antworten darauf, wie es sich anfühlt, wenn das alte Leben nichts mehr wert ist. «Den Menschen wurde bedeutet, dass sie mit dem, was sie bis dahin erlebt hatten, nach der Wiedervereinigung nichts mehr anfangen können. Diese Kränkungen wirken bis heute», sagt Hensel in einem Gespräch in einer Berliner Kneipe. Das Absurde dabei sei gewesen, dass man in Westdeutschland vor dem Mauerfall nur sehr wenig vom Alltag der DDR-Bürger gewusst habe. «Wir haben dauernd Westfernsehen geguckt, aber die Westdeutschen haben nicht an unserem Alltag teilgenommen. Umso erstaunlicher ist, dass sie nach dem Mauerfall ganz genau wussten, wie sie das Leben der Menschen einzuschätzen hatten.»
Die Publizistin und der Kultursoziologe diskutieren unter anderem über den Herbst 1989, die AfD und die Bundeskanzlerin Angela Merkel, die ihre ostdeutsche Herkunft nie gross thematisiert hat. «Ihre Message war, salopp gesagt: Nur wenn du dich anpasst, kannst du etwas werden. Das hat viele frustriert», konstatiert Hensel.
Identitätserzählung bleibt «defizitär und nachrangig»
Romane, Filme und Fernsehsendungen haben in den letzten Jahren anschaulich gemacht, wie der DDR-Alltag ausgesehen hat. In der Literatur wurden etwa Eugen Ruge, Ingo Schulze und zuletzt Christian Bangel verbreitet wahrgenommen. Dennoch: Die ostdeutsche Identitätserzählung «bleibt die defizitäre, die nachrangige, die marginalisierte und oft auch einfach jene, die schlicht übersehen wird», kritisiert Hensel im Buch. «Die DDR wird heute noch immer als ein durch und durch politisierter Raum begriffen. Alltagsgeschichte steht im Verdacht, den Regimecharakter zu verharmlosen. Was wir aber brauchen, ist Ambivalenz, Vielschichtigkeit und Komplexität.» Auch deswegen ist «Wer wir sind» ein Buch der Stunde. Denn obwohl sich in diesem Jahr der Untergang der DDR zum 30. Mal jährt, können noch immer die wenigsten Westdeutschen erspüren, was ihre ostdeutschen Mitbürger geprägt hat.
Buch
Wolfgang Engler/Jana Hensler
Wer wir sind.
Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein
288 Seiten
(Aufbau 2018)