«Coming-of-Age» heisst das Wort für Geschichten, die vom Heranwachsen erzählen. «Junger Mann» ist so eine Geschichte. Sie spielt in einer Zeit, als man ein Wort wie «Coming-of-Age» noch nicht kannte. Dafür gab es die Ölkrise und entsprechende Zwangsmassnahmen beim Benzinverbrauch. Der namenlose Ich-Erzähler und Protagonist erinnert sich, so der allererste Satz: «Mit vier Jahren brach ich mir zum ersten Mal das Bein.» Dann, vier Seiten weiter: «Acht Jahre, vier Gipsbeine und eine Tonne Schokolade später begann ich, in den Sommerferien als Tankwart zu arbeiten.» Bald erklärt sich auch der Buchtitel: «Die Kunden nannten mich respektvoll ‹Junger Mann›. Ausser jenen Vollidioten, die mich ‹Fräulein› nannten.»
Hochgeschossen, aber etwas dicklich
Der Junge, der hier erzählt, ist im Jahr 1973 ein «zwölfeinhalbjähriger Internatsschüler mit blonder Beatlesfrisur». Im kommenden zweiten Sommer auf der Tankstelle ist er «dreizehn Jahre und sieben Monate alt und einen Meter und 80 Zentimeter gross». Die Waage ist orange, «eine fröhliche Farbe, die mich optimistisch stimmte». Aber: Sie zeigt 93 Kilo an.
Ein paar Hinweise lassen auf Autobiografisches schliessen. Autor Wolf Haas hat Jahrgang 1960, er war als Junge tatsächlich schon hochgeschossen und etwas dicklich. Das Internat hat Haas auch besucht. Doch das reine Selbsterlebte ist hier nicht zu Literatur geworden. Der Roman mischt das Autobiografische mit frei Erfundenem zur köstlich-komischen Geschichte einer ersten Liebe und des Abnehmens.
Elsa: «Ein bisschen zu verheiratet für ihn»
Gewicht verlieren will er erst mit einem Trick, der freilich nicht funktioniert: «Badezimmerwaagenkamasutra», allerlei Verrenkungen, die weniger Gewicht auf die Waage bringen sollen. Dann passiert es: Bei der Arbeit erscheint ihm hinter der vereisten Windschutzscheibe Elsa. Für die Gesamtsituation hält der Klappentext zwei schöne Sätze parat: «Er ist ein bisschen zu dick und ein bisschen zu jung für sie.» – «Sie ist ein bisschen zu schön und ein bisschen zu verheiratet für ihn.»
Eine unmögliche Liebe also. Elsa ist mit dem Provinzhelden Tscho (in jüngeren Jahren «der beste Schifahrer ausserhalb des Fernsehens») zusammen. Er weilt als Lastwagenfahrer oft lange Zeit nicht zu Hause. Elsa wird vom Jungen angehimmelt, doch heimlich, ohne dass der Pubertierende seine diesbezüglichen Gefühle ihr gegenüber je formulieren würde.
Dafür geht er auf dem Beifahrersitz mit Tscho auf eine Reise, quer durch den Balkan, bis hinunter nach Griechenland ans Meer. Unterwegs lernt er das Abenteuer Leben kennen. In einem dubiosen Lokal isst er die erste Pizza seines Lebens: «Vor dem Mafioso fürchtete ich mich nicht. Aber vor den Kalorien.» Auch an anderem kann er sich wenig erfreuen. «Pommes frites: eine Million Kalorien.» Fast käme es in der Hafenstadt Thessaloniki zu einer existenziellen Entscheidung: hier bleiben und Fischer werden. «Von irgendwas musste ich hier ja leben. Aber wahrscheinlich musste man als Fischer sehr früh aufstehen, und da konnte ich gleich im Internat bleiben.»
In direktem, einfachem Erzählton
Ein gutes halbes Jahr dauert die Erzählzeit des Romans. Dann, nach einem Zeitsprung, findet das Buch 1978 zu einem versöhnlichen Schluss. Man darf es als Happy End bezeichnen.
Wolf Haas, der Autor der gefeierten, mehrfach verfilmten Privatdetektiv-Romane um die schrullige Figur Simon Brenner, schlägt in «Junger Mann» einen neuen Ton an. Haas praktiziert im Roman ein direktes, einfaches Erzählen, das nicht minder überzeugt. Es manifestiert sich ein literarischer Sound, der stellenweise an seinen österreichischen Schriftstellerkollegen Robert Seethaler erinnert. Wolf Haas hat ein ebenso ergreifendes wie erheiterndes Buch geschrieben, das für ein beglückendes Lektüreerlebnis gut ist.
Lesung
Einzige Schweizer Lesungen:
Mi/Do, 26.12./27.12., jew. 20.00
Kaufleuten Zürich
Buch
Wolf Haas
Junger Mann
238 Seiten
(Hoffmann und Campe 2018)