kulturtipp: Herr Rötzer, die BBC berichtete, dass die Briten dieses Jahr ihre Wohnzimmer schon sehr früh festlich schmückten. Erstaunt Sie das?
Florian Rötzer: Ich habe auch gehört, dass die Leute ihre Weihnachtsbäume früher als sonst gekauft haben. Die Menschen versuchen halt, sich dafür zu wappnen, Weihnachten auf irgendeine Weise in den eigenen vier Wänden feiern zu können. Ich hingegen bin ganz froh, dass der Feiertags-Rummel ausfällt (lacht).
Welche Bedeutung kommt unserem Heim in Corona-Zeiten zu?
Wir mussten entdecken, dass unsere Wohnung der zentrale Rückzugsort sein kann – aber eben auch jener Ort, an den wir während der Ausgangsbeschränkungen verbannt werden. Damit gewinnt das Heim natürlich eine ganz andere Qualität: Die Wohnung verwandelt sich in eine Gefängniszelle, aus der man unbedingt raus muss.
Für viele wurden die eigenen vier Wände ein Ort der Vereinsamung.
Vereinsamung war schon vor Corona ein massives Problem. Grossbritannien etwa rief bereits 2018 die Einsamkeit-Epidemie aus und richtete ein betreffendes Ministerium ein. Die Krise hat nun nochmals deutlich gemacht: Etwa die Hälfte der Bevölkerung in Grossstädten besteht aus Singles.
In der Schweiz ist die Nachfrage nach Eigentumswohnungen stark gestiegen. Weshalb ist uns der Besitz von Wohnraum so wichtig?
Ich glaube, dass die Eigentumswohnung noch stärker als zuvor zum Garanten für Sicherheit wird. Der Kauf ist der Versuch, in einer Krisenzeit für sich selber eine Festung zu erfinden.
Lässt sich auch der Boom von Einrichtungsblogs, der dänischen Lebensphilosophie Hygge (dt. Gemütlichkeit) und anderen Wohntrends so erklären?
Es gibt noch weitere solche Phänomene – die Sehnsucht nach dem Landleben, zum Beispiel. Man konnte überdies schon vor Corona gesamthaft eine Rückkehr zu konservativeren Lebensweisen beobachten: Die Menschen heiraten, kriegen mehr Kinder, schaffen sich noch einen Hund an. Sie erstreben einen Idealtypus vom gemütlichen, privaten Wohnen als Familie.
Die Menschen ziehen sich also ins Private zurück – und zeigen ihr Heim dann doch auf Blogs wie «SoLebIch» der ganzen Welt.
Das ist ein Paradox – die Menschen holen das Private in die Öffentlichkeit und zerstören es so. Da spielt sicher der Wunsch nach Aufmerksamkeit hinein.
Ist denn unser Heim in Zeiten von Videokonferenzen aus dem Wohnzimmer noch privat?
Nein, eigentlich überhaupt nicht mehr. Ich mache das in meinem Buch auf plastische Weise deutlich: Für das Telefonkabel bohrten wir das erste Loch in die Wände unserer Heime; das hat uns mit der Welt verbunden. Seither ging dieser Prozess Schritt für Schritt über Radio, Fernsehen und natürlich das Internet weiter. In dieser Krisenzeit hat man nochmals deutlich gemerkt, wie intensiv wir sozusagen gar nicht zu Hause sind, sondern immer irgendwo da draussen. Indem wir Videokonferenzen machen, Fernsehen schauen und kommunizieren. Über den Internetzugang bewegen wir uns ständig in der virtuellen Weltmetropole.
Als Nächstes kommt das Smart Home mit digitalen und fernsteuerbaren Geräten. Es gibt eine TV-Werbung, in der sich ein Hausbesitzer mit einem solchen abmüht. Das ist lustig und beängstigend. Weshalb eignet sich unser Heim so gut als Ort des Horrors?
Schon Sigmund Freud hob hervor, dass gerade das Vertraute zum Unheimlichen werden kann. Deswegen auch: un-heimlich. In früheren Zeiten wohnte das Unheimliche in leeren Gebäuden. Momentan wandelt sich das in Richtung des Smart Home: Geräte sind vernetzt, alles scheint ein Eigenleben zu führen. Das Haus ist nicht mehr eine tote Struktur, sondern eine Art Gegenüber. Das Unheimliche ist ein Phänomen des Übergangs, und wir gehen gerade über in eine neue Art des Wohnens. Da fremdelt es zunächst einmal.
Bisher mussten wir zumindest zu Hause nicht ständig Normen genügen. Ist dieser Raum der Freiheiten gefährdet?
Ich glaube schon, dass er gefährdet ist. Je mehr wir die Öffentlichkeit in unsere privaten Räume hineinlassen, desto mehr werden wir bestimmten Normen gehorchen – wie wir uns darstellen, wie der Raum aussehen muss. Für die Zoom-Konferenz muss man nicht nur sich selber drapieren, sondern auch seine Umgebung.
Unsere Gesellschaft kennt seit der industriellen Revolution eine Trennung von Wohnen und Arbeit. Was bedeutet da der Home-Office-Trend?
Man muss andere Strukturen für sich entwickeln, wie man Freizeit von Arbeit trennt und wie man die familiären Beziehungen pflegt. Es wird auch wichtiger, dass die Wohnung entsprechend gross ist und so auch die Möglichkeit bietet, die Lebensbereiche räumlich zu trennen. Auch da hat Corona allerdings gezeigt: Die Krise sieht für Privilegierte anders aus als für Menschen, die sich keine so grosse Wohnung leisten können. Für sie kann Home-Office zu einer grossen Belastung werden.
Uns beschäftigt heute nebst Rückzug und Heimat auch ein neues Nomadentum. Wie lassen sich diese Gegensätze erklären?
In meinem Buch habe ich versucht, das anhand der beiden Philosophen Martin Heidegger und Vilém Flusser festzumachen. Heidegger suchte eine Verwurzelung und war der Meinung, man sei nur Mensch, wenn diese gegeben ist. Das hiess bei ihm aber auch: Der Mensch kann nicht in einer Grossstadt, sondern nur auf dem Land leben. Der von den Nazis geflohene Jude Flusser hingegen musste schmerzvoll entdecken, was es heisst, sich in der Heimatlosigkeit niederzulassen. Er nannte das ein Leben in der Bodenlosigkeit. In Bezug auf die Migrationsströme meinte er auch, dass dieses Leben vermehrt die Zukunft darstellen wird, wenn die Menschen die Bodenlosigkeit anerkennen.
Das ist aktueller denn je.
Wir wissen, dass die Globalisierung immer mehr Arbeitsmigranten auch in Form von digitalen Nomaden und Vertriebene hervorbringt. Und dass sich so die Kulturen immer stärker vermischen werden. Auch deshalb werden Heim und Heimat gerade nochmals zelebriert – weil sie schon am Verschwinden sind.
Buch
Florian Rötzer
Sein und Wohnen – Philosophische Streifzüge zur Geschichte und Bedeutung des Wohnens
288 Seiten
(Westend Verlag 2020)