Ich freute mich sehr, als die Einladung von 3sat kam, drei Filme über «Heimatgefühle» zu drehen, in Deutschland, Österreich und in der Schweiz. Als Heimatloser mit Erfahrung hoffte ich, auf diese Weise diese Länder neu zu entdecken. In Wien konnten wir im Rosengarten die Blumen kaum sehen, jede Pflanze war von chinesischen Touristen mit Fotokameras umzingelt. Sie beugten sich zu jeder Rose und atmeten tief ein. Es schien, als würden die Chinesen statt Bienen die Rosen in Wien bestäuben. Sie gingen von Pflanze zu Pflanze, knieten nieder, rochen an den Blüten und niesten. Es wird sicher nächstes Jahr in Wien jede Menge neue Kreuzungen im Rosengarten geben.
In der Schweiz wollte der Filmleiter keine Kühe im Bild haben. «Das ist ein Klischee», klärte er mich auf. «Die Schweiz darf nicht auf die Kühe reduziert werden. Ich möchte keine Kühe in unserem Film sehen!» Und trotzdem liefen uns die Viecher immer ins Bild, kaum dass wir auf einer schönen Wiese, auf einem Volksfest oder am Fuss eines Berges zu drehen begonnen hatten. Ich glaube, die Kühe betrachten die Schweiz als ein nie endendes Mittagessen, ihre Heimatliebe ist stärker als die der Menschen. Als erstes drehten wir einen Prolog in Zürich, eine sprachliche Einladung zum Film. Ich verfasste den Text zusammen mit dem Regisseur, einem Schweizer. «Wenn ich an die Schweiz denke, denke ich an dicke Tafeln Schokolade, löchrigen Käse, diskrete Banken und Menschen, die vier Sprachen können, aber sie selten benutzen. Sie reden wenig, arbeiten viel und haben alle zu Hause ein Gewehr und eine Kuh zum Streicheln. Nur manchmal, wenn es ihnen zu langweilig wird, gehen sie in die Berge und jodeln bis nach Mitternacht. Doch das sind alles Vorurteile. In Wahrheit ist die Schweiz ein vielstimmiges Land, in dem sich die Weltgeschichte widerspiegelt, wir wollen herausfinden, wie es wirklich tickt», sagte ich in die Kamera. «Ich würde gern die Kuh weglassen», meinte der Regisseur. «Dieses Klischee ist wirklich überall.»
Der Aufsager war schnell fertig gedreht, danach erkundete ich die Stadt, die Gegend um das Hotel herum. Die Spuren der Weltgeschichte sind hier in der Tat in jeder Strasse zu finden. Direkt ums Eck hat zum Beispiel Lenin gewohnt, sieh an, der Führer der Russischen Revolution. Das hat mich überhaupt nicht gewundert. Zeit meines Lebens kreuzen sich unsere Wege. Egal, wo ich auftauche, hat in der Nähe schon mal Lenin gewohnt. In meiner Kindheit in der Schule war er allgegenwärtig, wir mussten schon ab der ersten Klasse alle das Abzeichen tragen, ein Stern mit dem jungen Leninkopf in der Mitte, als er noch niedliche Locken und keine Glatze hatte. Kaum hatten wir lesen gelernt, bekamen wir das Kinderbuch «Lenins Kindheit» in die Hand, natürlich nicht freiwillig, sondern als Pflichtlektüre. Darin gab es eine Menge Legenden, was für ein gutes Kind dieser Lenin doch war, wie er mittags immer alles aufgegessen hat, um seine Mutter nicht traurig zu machen, und ihr im Haushalt half. In den nächsten Klassen kamen neue Geschichten dazu, wir wuchsen heran, und Lenin wuchs mit uns mit: «Wie Lenin mit dem Rauchen aufhörte», «Wie Lenin den Dorfkindern half», «Wie Lenin seine Hausaufgaben machte». Mit der Zeit begann Lenin sich für die Rechte der Arbeiter einzusetzen, die Geschichten darüber hiessen «Lenin und der Kaminbauer» oder «Lenin in der Verbannung». Meine Lieblingsgeschichte tanzte etwas aus der Reihe, sie hiess «Lenin und der Fuchs».
Es ging darum, wie Lenin, als er in Sibirien in der Verbannung war, mit den anderen Revolutionären auf Jagd ging. Er konnte nicht schnell laufen, dafür aber sehr gut schiessen. Also sass er in einem Versteck, die Revolutionäre trieben einen Fuchs direkt auf ihn zu, aber Lenin, ein hervorragender Schütze, hat den Fuchs nicht erschossen. Später erklärte der zukünftige Führer des Weltproletariats, der Fuchs sei so wunderschön gewesen und hätte so rührend geguckt, dass er es nicht fertiggebracht habe, das Tier umzulegen. Auf den ersten Blick bestand die Botschaft dieser Geschichte darin, der Jugend zu zeigen, was für ein herzlicher und grosszügiger Mensch dieser Lenin war. Ein Schulkamerad von mir, der aus Sibirien stammte, erkannte jedoch den wahren Sinn der Erzählung sofort. Er meinte, der Fuchs habe Lenin seine Seele geklaut. Jeder Jäger in der Taiga weiss, man darf es nicht zulassen, dass dir ein wildes Tier als erstes in die Augen schaut. Wenn das passiert, hat es die Macht über deine Seele errungen und kann mit dir machen, was es will. Du schaust auf die Welt nur noch durch die Augen des Fuchses und hast kaum eine Chance, deine Seele zurückzuerobern. Der einzige Weg wäre, schnell einen soliden vernünftigen Schamanen aufzusuchen, der den Fuchs aus dir vertreiben kann. Das hat Lenin vermutlich nicht gemacht, er war ja Atheist, und so wurde aus einem netten Jäger ein Monster, der das Land in den Bürgerkrieg stürzte, Millionen Menschen vertrieb und vernichtete. Dabei hat er immer ein Auge zugekniffen und ganz fuchsig geguckt. Diese dunkle Vergangenheit wird heute noch dem russischen Volk verschwiegen, was nachvollziehbar ist. Es ist schwer zu vermitteln, dass wir die Revolution und den Massenterror gar nicht Marx und Engels zu verdanken haben, sondern einem Fuchs aus dem sibirischen Wald.
Ich wusste schon immer, man soll mit den Tieren tierisch aufpassen. Sie spielen in unserem Leben eine wichtige Rolle, sie haben mehr Einfluss auf uns, als uns lieb ist. Besonders gefährlich können sie werden, wenn sie einem als erste in die Augen schauen. Was dann passiert, wissen wir von Lenins Beispiel. Deswegen haben viele Hundebesitzer einen Hundeblick, die Omas, die in den Berliner Parks die Tauben füttern, schielen so merkwürdig, als wären sie selbst grosse Tauben, die sich nur für kurze Zeit in die Omas verwandelten. Und Menschen, die mit Kühen leben, strahlen Wärme und Ruhe aus. Vielen Schweizern haben die Kühe als erste in die Seele geschaut, sie hatten auch diesen rührenden, ein wenig vernebelten Blick. Bestimmt konnte eine Kuh auch unserem Lenin in die Seele geschaut haben, als er in der Schweiz lebte, nur leider zu spät, da war ja schon der Fuchs in ihm. Was für eine Zukunft Russland gehabt hätte, wenn die Kuh vor dem Fuchs gekommen wäre, darüber kann man heute nur spekulieren.
Laut dem Drehplan für unseren Film sollten wir uns mit interessanten Schweizern treffen, nicht mit den Kühen. «Ich möchte keine Wiederkäuer im Bild haben», sagte der Regisseur streng, «die Schweiz ist ein vielseitiges Land mit einer langen, spannenden Geschichte. Die Reformation, die Freiheitsliebe, die Demokratie, all das, was das heutige Europa ausmacht, kommt aus der Schweiz.» Doch wenn man nach einem passenden Bild aus der Schweiz für das Ausland sucht oder einfach «Schweiz» im Internet eintippt, kommen immer wieder nur Kühe dabei raus. Kühe, Uhren und Käse. «Das wird bei unserem Film anders sein!», meinte der Regisseur.
Die 3sat-Sendungen «Kaminer Inside – Auf der Suche nach dem Heimatgefühl» über die Schweiz, Österreich und Deutschland sind online abrufbar: https://www.3sat.de/kultur/kaminer-inside
Wladimir Kaminer
1967 in Moskau geboren, machte Wladimir Kaminer eine Ausbildung zum Toningenieur für Theater und Rundfunk und studierte Dramaturgie am Moskauer Theaterinstitut. Seit 1990 lebt er in Berlin. «Privat ein Russe, beruflich ein deutscher Schriftsteller», heisst es auf seiner Homepage. Zu seinen bekanntesten Werken gehört der Roman «Russendisko» von 2002. Kürzlich ist sein Buch «Tolstois Bart und Tschechows Schuhe – Streifzüge durch die russische Literatur» im Wunderraum Verlag erschienen.