Während ich diesen Text schreibe, toben in Europa Unwetter und Schneestürme. Ich sitze in der Maremma, einer kleinen Region der Toskana, und schaue über ein Feld mit Olivenbäumen. Es ist kalt, aber die Sonne scheint.
Hin und wieder sehe ich einen Helikopter Richtung Küste nach Giglio fliegen. Dorthin, wo im Januar das Kreuzfahrtschiff Costa Concordia versank. Die Suche nach Überlebenden wurde inzwischen aufgegeben. Wochenlang war das Schiffsunglück hier in der Küstengegend der Toskana das Thema Nummer eins.
Neben dem Entsetzen über den tragischen und sinnlosen Unfall war man hier über die Feigheit des Kapitäns Francesco Schettino empört. Er war einer der Ersten, der das Schiff verliess. Trotz mehrmaligen Anweisungen des Kommandanten ging er nicht auf sein Schiff zurück, um die Verantwortung zu übernehmen, wie man es von einem Kapitän erwartet.
«Es ist finster», hatte er dem Kommandanten stattdessen über Funk mit weinerlicher Stimme gesagt. Der Kapitän wurde zum Gespött des Landes. «E buio», «es ist finster», sagen die Italiener inzwischen, wenn sie sich über jemanden lustig machen.
Schettino hatte nicht nur die Berufsehre schwer verletzt und sich der fahrlässigen Tötung verantwortlich gemacht, sondern auch die Männer seines Landes verraten. Vielleicht hat er aber etwas aufgezeigt. Nämlich, dass man in einem Land, das aus lauter «Mammoni» besteht – so nennt man in Italien die ewigen Nesthocker, die so lange wie möglich im «Hotel Mama» logieren –, eigentlich nichts anderes erwarten kann, als dass sie, wenn es darauf ankommt, zusammenbrechen und im Finsteren nach Mama rufen.
Vielleicht ist es daher kein Zufall, dass man gerade im Ursprungsland des Machismo Mut und Courage nicht erwarten kann.
Sicher, Verallgemeinerungen haben immer die Gefahr, unfair zu sein. Ein Norditaliener ist von einem Süditaliener so unterschiedlich, als kämen sie aus zwei veschiedenen Ländern. Tendenziell werden Italiener im Norden mehr zur Selbständigkeit erzogen als im Süden. Das hat natürlich auch wirtschaftliche und sozialpolitische Gründe. Aber fest steht: Die Bambini sind die Stars der italienischen Gesellschaft und werden verhätschelt, wo es nur geht. Insbesondere der männliche Nachwuchs.
Seit ich in Italien lebe, staune ich immer wieder, wie unterschiedlich der Umgang mit Kindern im Vergleich zu nördlichen Ländern wie die Schweiz oder England ist. Es hat seine schönen Seiten. So ist mir zum Beispiel aufgefallen, dass meiner zweijährigen Tochter in Alltagssituationen sehr viel Wärme entgegengebracht wird. «Amore» und «Principessa» hört man hier auf Schritt und Tritt. Kürzlich wurde mir meine Kleine von einer Kassiererin im Supermarkt förmlich aus den Händen gerissen und in heller Begeisterung an sich gedrückt, während die Menschen in der Warteschlange zustimmend lächelnd geduldig warteten. In einem Supermarkt in London wäre so eine Situation undenkbar. Man hätte für solche Ausbrüche spontan menschlicher Gefühlsregungen weder die Zeit noch das Verständnis.
Berührungsängste mit Kleinkindern gibt es in Italien keine. Kinder werden auch nicht wie in der Schweiz oder in England als störend empfunden, nur weil sie laut sind. Oft wunderte ich mich in der Schweiz über die Grabesstille in Cafés oder Restaurants. Selbst in der Anwesenheit von Kindern ist der Lärmpegel stets auf Flüsterton eingestellt. Woher kommt das? In der Schweiz gibt es eine regelrechte «Flüsterkultur». Andauernd werden Kinder zum Schweigen oder Flüstern angehalten. «Pscht, pscht», heisst es sofort, wenn ein Kind in der Öffentlichkeit einen Laut von sich gibt. Seit ich in Italien lebe, habe ich noch nie einen Erwachsenen zu einem Kind «pscht» sagen hören. Niemand würde das hier verstehen.
Wer kleine Kinder hat, weiss, dass der Sonntagmorgen nicht zum Ausschlafen da ist. Wie oft war ich in der Schweiz sonntags schon in aller Früh auf dem Spielplatz, zusammen mit anderen übermüdeten Eltern mit Ringen unter den Augen, die sich fragten, warum gibt es in diesem Land eigentlich kein geöffnetes Café? Was machen Eltern junger Kinder an einem Sonntagmorgen in der Schweiz? Sie haben eigentlich keine Wahl, ausser zu Hause zu bleiben. Die Welt ist geschlossen.
In Italien trifft man sich traditionellerweise auf der Piazza und geht in eine Bar, um dort einen (perfekt gemachten) Cappuccino zu trinken. Menschen. Kindergeschrei. Leben. Überhaupt scheint man hier den Alltag insgesamt fröhlicher und entspannter zu gestalten als anderswo.
Nicht nur muss ich mir in Italien eine neue Sprache aneignen, auch der italienische Fahrstil will gelernt sein. Kürzlich, im morgendlichen Gehetze auf dem Weg zum Kindergarten, riss ich in der Eile einem sympathischen und sehr langsam fahrenden Fiat Punto den Spiegel weg. Schuldbewusst hielt ich an, suchte nach einem Stift, um die Versicherungsnummer zu notieren in Erwartung eines Donnerwetters. Da kam er schon angebraust, kurbelte das Fenster runter, rief «Auguri Belissima» und fuhr von dannen. Der Spiegel war ihm offenbar egal, der Mensch war einfach zu gut gelaunt, um sich wegen einer Bagatelle den Tag verderben zu lassen. Willkommen in Italien!
Vor wenigen Monaten bin ich mit Sack und Pack in die Toskana gezogen, und irgendwie ist es ein bisschen wie ein Heimkommen. Unweit, in einem Haus in den Hügeln Umbriens, schrieb ich vor 15 Jahren meinen ersten Roman. Obwohl sich mein Leben wie eine ewige Baustelle anfühlt, scheint sich hin und wieder ein Kreis zu schliessen.
Erst jetzt sehe ich, dass der Winter inzwischen auch bis hierher vorgedrungen ist. Auf dem Monte Amiata liegt Schnee.
Zoë Jenny
Zoë Jenny wurde 1974 in Basel geboren und wuchs in Griechenland und im Tessin auf. Ihr 1997 erschienener Roman «Das Blütenstaubzimmer» wurde zum Bestseller. Jenny lebte danach in China und Japan, New York und Berlin, bevor sie heiratete und 2004 in England sesshaft wurde. Nach der Trennung von ihrem Ehemann zog sie mit ihrer zweijährigen Tochter in die Toskana und ist seit kurzem Chefredaktorin des mediterranen Lifestyle-Magazins «La Bella Vita».