«Von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag wächst der Schnee, es sind Kristalle ohne Gewicht, die sich vereinen und bis zum Fensterbrett der untersten Fenster hoch wachsen. Der Haufen wächst wie eine Hecke, wie eine Mauer, er verdunkelt die Küchen und Kammern.» In seinem schmalen, 1965 erschienenen Roman «Der lange Winter» beschreibt Giovanni Orelli (geb. 1928) das Schicksal eines Dörfchens im Bedrettotal, das langsam eingeschneit, von Lawinen bedroht und schliesslich von der Umwelt abgeschnitten wird.

Das Buch zeugt von der gar nicht so lange untergegangenen, alles andere als idyllischen Welt der Tessiner Bergbauern. Der Autor schildert präzis und aus persönlicher Erfahrung – Orelli ist im Bedrettotal aufgewachsen – die Bedrohung durch die gewaltigen Schneemassen. Und er zeigt, wie die Naturgewalt eine jahrhundertealte Gesellschaft allmählich zerstört und das Vertraute Neuem weichen muss.

Mit jeder Lage Neuschnee kündigt der lange Winter eine Zeitenwende an: Er zwingt die Einwohner zum Nach­denken über die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens. Damit sehen sie sich auch mit Entscheidungen über ihre Zukunft konfrontiert, selbst wenn diese längst nicht mehr in ihrer Macht liegen. Denn die Veränderungen der modernen Zeit sind stärker als die Traditionen und der Zusammenhalt des Dorfes.
Nach zwei Monaten beschliessen die Behörden die Zwangsevakuierung. Und im Frühling bleiben die Jungen, neugierig aufs Neue, in der Stadt. Nur die Alten kehren zurück – in eine zum langsamen Sterben ver­urteilte Welt.


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Giovanni Orelli
Der lange Winter
160 Seiten
Erstausgabe: 1965 Heute erhältlich
beim Limmat Verlag
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