Wieder gelesen - Wundersames aus dem Kaninchenloch
Skurrile Figuren bevölkern Lewis Carrolls Roman «Alices Abenteuer im Wunderland». Jonathan Wolstenholme hat den Klassiker mit witziger Feder neu illustriert.
Inhalt
Kulturtipp 17/2012
Babina Cathomen
Ein Fantasiereich voller wunderlicher Geschöpfe hat der Mathematiker und Autor Charles Lutwidge Dodgson alias Lewis Carroll mit seiner «Alice im Wunderland» geschaffen. Wenn man dem Mythos Glauben schenken will, hat er die Geschichte 1862 auf einer Bootsfahrt als Zeitvertreib für die kleine Alice und ihre Schwestern ersonnen. Unklar blieb bis heute, welche Beziehung er zu Alice pflegte; in Carrolls Biografie wird nur ein abrupter Bruch mit Alice und ihrer Familie verzeic...
Ein Fantasiereich voller wunderlicher Geschöpfe hat der Mathematiker und Autor Charles Lutwidge Dodgson alias Lewis Carroll mit seiner «Alice im Wunderland» geschaffen. Wenn man dem Mythos Glauben schenken will, hat er die Geschichte 1862 auf einer Bootsfahrt als Zeitvertreib für die kleine Alice und ihre Schwestern ersonnen. Unklar blieb bis heute, welche Beziehung er zu Alice pflegte; in Carrolls Biografie wird nur ein abrupter Bruch mit Alice und ihrer Familie verzeichnet.
Schräges Traumland
Sicher ist: Die Kindergeschichte des verschrobenen Autors mauserte sich zum Roman, der durch seine Vielschichtigkeit und seine satirischen Anspielungen auch Erwachsene zu begeistern vermag. Schriftsteller von James Joyce bis Jorge Luis Borges und Filmer wie Tim Burton (siehe Seite 16) liessen sich von ihm inspirieren.
Alles beginnt mit einem weissen Kaninchen, das mit einer Uhr in der Pfote eilig an Alice vorbeihüpft und sich über sein Zuspätkommen enerviert. Das Mädchen rennt ihm nach, fällt in ein Kaninchenloch und landet im schrägsten Traumland der Literaturgeschichte. Zeit, Raum und Sprache haben hier andere Dimensionen. Alice begegnet verrückten Wesen, die ihr in einer Mischung aus Nonsens und Philosophie Ratschläge erteilen. Etwa die schläfrige, blaue Raupe, die Wasserpfeife raucht und bei Alice mit kurz angebundenen Äusserungen Verwirrung stiftet. Oder die beiden Lakaien – ein Fisch- und ein Froschgesicht mit gepuderter Perücke und Livree. Auch der Frosch-Lakai treibt sie mit seinen absurden Bemerkungen zur Weissglut, und Alice stellt fest: «Es ist völlig sinnlos mit ihm zu reden. Er ist vollkommen blödsinnig!»
So geht es in einem fort und fort: Alice muss sich in einem Land behaupten, wo alles nach einer anderen Logik funktioniert und wo es unzimperlich zu und her geht: Die Herzkönigin will ihr den Kopf abschlagen, Flamingos dienen als Krocketschläger und ein Wickelkind wird mit Gegenständen beworfen. In Alices Armen verwandelt sich das Baby urplötzlich in ein grunzendes Ferkel. Alice, die sich an Sonderbarkeiten gewöhnt hat, stellt trocken fest: «Das wäre in einigen Jahren ein furchtbar hässliches Kind geworden, aber als Ferkel macht es sich recht nett, finde ich.»
Carrolls Roman strotzt nicht nur vor Witz und Fantasie, sondern zeigt – verpackt in einen verrückten Traum – Alice auf der Schwelle zum Erwachsenwerden, wo die Welt plötzlich nach ganz anderen Regeln als in der Kindheit funktioniert. Das Wunderland steht aber auch anderen Interpretationen offen: Jeder kann daraus seinen eigenen (Un)Sinn ableiten – oder sich einfach vorbehaltlos ins fantastische Kaninchenloch fallen lassen.
Der britische Künstler Jonathan Wolstenholme hat den Klassiker mit witzigen Zeichnungen neu illustriert. Nur die Hauptperson selbst müssen die Leser bis fast zum Schluss auf den Bildern suchen: Denn anders als bei den bisherigen Alice-Illustrationen soll dieser Band alles aus Alices Sicht darstellen. So bekommen die Grinsekatze und der Suppenschildkrötenersatz, der Dodo und alle anderen Fabelwesen einmal mehr ein neues Gesicht.
[Buch]
Lewis Carroll
«Alices Abenteuer im Wunderland»
176 Seiten
Erstausgabe: 1865
Übersetzung:
Gerd Haffmans
(Zweitausendeins 2012).
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