Wieder gelesen: Wütendes Schweigen
Die Edition Büchergilde bringt zu ihrem 90-Jahre-Jubiläum drei illustrierte Novellen von Heinrich von Kleist heraus – drei Künstler haben sich zeichnerisch mit je einem Text auseinandergesetzt.
Inhalt
Kulturtipp 22/2014
Letzte Aktualisierung:
15.10.2014
Babina Cathomen
Kleists «Die Marquise von O….» von 1808 beginnt, wie es sich für eine Novelle gehört, mit einer unerhörten Begebenheit: Die Marquise, «eine Dame von vortrefflichem Ruf, und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern», setzt eine Annonce in die Zeitung, in der sie den Vater ihres ungeborenen Kindes sucht. Denn die Witwe befindet sich in anderen Umständen – ohne Wissen, wie es dazu kam. Nach diesem für damalige Zeiten schockierenden E...
Kleists «Die Marquise von O….» von 1808 beginnt, wie es sich für eine Novelle gehört, mit einer unerhörten Begebenheit: Die Marquise, «eine Dame von vortrefflichem Ruf, und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern», setzt eine Annonce in die Zeitung, in der sie den Vater ihres ungeborenen Kindes sucht. Denn die Witwe befindet sich in anderen Umständen – ohne Wissen, wie es dazu kam. Nach diesem für damalige Zeiten schockierenden Eingang, rollt Kleist die Geschichte dahinter auf.
Es stellt sich heraus, dass die Witwe von ihrem vermeintlichen Retter – einem Grafen, der sie vor russischen Soldaten in Sicherheit brachte – vergewaltigt worden ist. Die Marquise wurde ohnmächtig und hat das traumatische Ereignis tief in ihrem Unterbewusstsein vergraben. Wegen ihrer Schwangerschaft wird sie von den Eltern verstossen und heiratet nach einigen Verwicklungen den Grafen, der Reue zeigt.
Den Umgang der Marquise mit der Vergewaltigung haben die Interpreten seither unterschiedlich gedeutet: Weibliche Emanzipation, weil sie Eigeninitiative und ein gewisses Selbstbewusstsein zeigt, oder Unterwerfung, weil sie ihren Vergewaltiger heiratet? Die Berliner Illustratorin Anke Feuchtenberger wählt ihre eigene Interpretation. Sie habe ihr Unbehagen überwinden müssen, sich zeichnerisch mit der «Geschichte einer vergewaltigten Frau und ihres unglaubhaften Sich-zufriedengebens» zu beschäftigen, schreibt sie in der Einleitung. Die Handlung verlegt sie in das Deutschland nach 1945: «Ich glaubte, beim Lesen der Erzählung und beim Zeichnen permanent das wütende Schweigen der Frauen aus der Generation meiner Grossmutter zu hören. Das glückliche Ende ist nur eine papierne Oberfläche über dem unterirdischen Brodeln. Wie immer bei Kleist».
Der edel gestaltete Band der Edition Büchergilde beinhaltet zwei weitere Kleist-Texte und ihre zeichnerischen Interpretationen: Johannes Grützke beschäftigt sich mit «Michael Kohlhaas» und Martin Grobecker mit «Der Findling».
Heinrich von Kleist
«Michael Kohlhaas»/«Die Marquise von O….»/«Der Findling»
Mit Zeichnungen erhältlich bei Edition Büchergilde.