Eigentlich passiert nicht viel auf den 120 Seiten, die sich in den himmelblauen Einband dieses hübsch und aufwendig fabrizierten Büchleins mit dem Titel «Liebe» schmiegen. Jon und seine Mutter Vibeke verbringen einen Abend – zusammen nur ganz kurz beim Essen. Davor und danach gehen beide ihrer Wege: Die Mutter wäscht sich ausgiebig die Haare, Jon zieht sich in sein Zimmer zurück, später geht er nach draussen und stromert durch die Strassen.
Jon freut sich auf den folgenden Tag: seinen neunten Geburtstag. Vibeke freut sich auf einen entspannten Abend. Draussen ist es eisig kalt, der Schnee liegt meterhoch in der Kleinstadt irgendwo im hohen Norden Norwegens. Jon kehrt dennoch nicht nach Hause zurück, er will seine Mutter nicht stören beim Kuchenbacken. Vibeke will sich in der Bibliothek noch ein Buch holen, doch diese hat schon geschlossen.
Klirrend klar wie der Winterabend
In exakt solch nüchternen Staffelsätzen erzählt Hanne Ørstavik von ihren beiden Figuren. Ihre Sprache ist so klirrend klar wie der beschriebene Winterabend. Und eben: Es geschieht nicht viel, und doch hängt man lesend an jedem Buchstaben, jagt durch die simplen Sätze in Erwartung eines Ereignisses, einer Aktion, einer Wendung. Dabei schwebt man zwischen Hoffen und Bangen, denn die Nacht wird zunehmend dunkler und kälter, und es tauchen Figuren auf, die sich Jon wie Vibeke auf sonderliche Weise zur Seite stellen.
Sehr bald fragt man sich, was diese Geschichte mit der titelgebenden Liebe zu tun haben könnte. Klar: Zwischen Jon und Vibeke schwingt so etwas wie eine wortlose Liebe. «Jon», sagt sie kurz nach dem Essen, «mein allerliebster Jon». Dann gehen sich die beiden aus dem Weg und lassen sich alleine. Alleine wie so oft, macht es den Anschein. Einsam sogar und gefangen in ihrer je eigenen Welt. Dort wohl auch irgendwie geborgen und doch voller Sehnsucht – nach Wärme, nach Licht, nach Liebe.
Im Laufe des Abends und der eisig dunklen Nacht tritt die Liebe dann doch noch mannigfach in Erscheinung. Vibeke wie auch Jon unternehmen sachte Versuche, ihrer autistischen Geborgenheit zu entfliehen. Ob es zu einer Wendung kommt, sei nicht verraten.
Hanne Ørstavik hat diesen himmeltraurig schönen, diesen unfassbar packenden Roman, der vielmehr eine Novelle ist, mit Mitte 20 geschrieben. Erschienen ist er 1997.
Durchbruch in Norwegen
Zuvor schon hatte die junge Autorin zwei Romane veröffentlicht, aber «Kjærlighet» war ihr Durchbruch im literarischen Norwegen, wo sich damals auch Karl Ove Knausgård oder Per Petterson mit Nachdruck zu Wort meldeten. Deren steile Karriere und heute internationale Bedeutung hat Hanne Ørstavik noch nicht erreicht. Auf Deutsch sind neben «Liebe» erst zwei ihrer elf Bücher erschienen: «Als ich gerade glücklich war» (2002) und «Die Pastorin» (2009).
Es ist zu hoffen, dass der sich abzeichnende Erfolg von «Liebe» im Leben der Autorin zu einer Wende führt. Das Buch übrigens liest sich bei aller klimatischen und emotionalen Kälte problemlos im Sommer. Denn es rückt auch die Lesenden für kurze Zeit in eine autistische Kapsel.
Buch
Hanne Ørstavik
«Liebe»
Originalausgabe: 1997
In deutscher Übersetzung von Irina Hron
im Karl Rauch Verlag erhältlich