Sie heisst Nicola Six, und sie hatte einmal mit Gott geschlafen: «Das hatte sie getan, um Ihm zu zeigen, was Ihm für immer und ewig fehlen würde.» Dies ist die Vorstellungswelt der Protagonistin Nicola Six im Roman «London Fields» des englischen Schriftstellers Martin Amis. Der 70-jährige Autor hatte Ende der 90er-Jahre eine Groteske der britischen Gesellschaft geschrieben, in der einzig der Wahnsinn regiert. Das Buch ist jetzt neu auf Deutsch erschienen.
Beschreibung von Befindlichkeiten
Der in New York lebende Amis gehört zu den führenden Schriftstellern im englischsprachigen Raum. Er hat sich nicht nur der Fiktion verschrieben. Vielmehr meldet sich Amis als linksliberaler Zeitgenosse bei aktuellen politischen Fragen kritisch zu Wort. So ist seine Polemik gegen US-Präsident Trump legendär. Daneben schafft er es immer wieder in die Schlagzeilen der Boulevardpresse, sei es wegen seines turbulenten Privatlebens oder seiner unbescheidenen Honorare.
Wer in «London Fields» eine Handlung sucht, wird enttäuscht, zumindest bis zu den letzten Kapiteln. Amis beschreibt vielmehr über Hunderte von Seiten die Befindlichkeiten seiner Protagonisten, die er im Pub Black Cross zu immer wieder neuen Szenen auftreten lässt wie die Schauspieler auf einer Bühne. Ein anderes Theater ist das Bett der Protagonistin, denn sie gewährt ihre Gunst nicht nur Gott, viel lieber noch den Sterblichen.
Allerlei Begegnungen im Pub
Die Geschichte ist als Krimi angelegt. Der US-amerikanische Schriftsteller Samson Young reist nach London, um eine Schreibblockade zu überwinden. Er kommt in den Pub Black Cross in der Portobello Road, wo er glücklicherweise die Akteure seines neuen Buchs findet – etwa Nicola Six. Sie kann in die Zukunft sehen und weiss, dass sie ermordet wird, kennt aber den Mörder nicht. Einer ihrer Liebhaber ist Keith, ein Fiesling, der seine Erfüllung im Dartspiel findet. Da ist auch der steinreiche, aber depperte Guy, der bei Nicola Six landen möchte. Sie spielt ihm die Rolle einer liebesscheuen Jungfrau vor, was seine Begierde ins schier Unermessliche treibt. Seine Ehefrau Hope kümmert das nicht, denn sie treibt sich ebenfalls allerorts herum. Zu kurz kommt da ihr gemeinsames Kleinkind Marmaduke. Es hat Dutzende von Kinderfrauen ins Elend getrieben. Denn es verfügt über blitzschnelle Fingerchen, die es den Mitmenschen gerne in die Augenhöhlen steckt. Wer das für übertrieben hält, den beruhigt der Erzähler mit der Behauptung: «Natürlich versuche ich ständig Marmaduke abzuschwächen … Es gibt Dinge, die kann man in einem Buch einfach nicht schreiben.» Der fiktive Erzähler tut es dann doch: «Der Kleine fickt Steckdosen.»
Metapher der britischen Gesellschaft
Wem das nicht genug ist, der kann sich am Untergang der Metropole London als Metapher der britischen Gesellschaft ergötzen: «Die ganze Strassen-Bordsteinkante ist abgewetzt und ausgefranst, aus den Fugen und voller Ratten. Guy spürte, wie ihn die Strasse filzte …» Diese Vision einer britischen Dystopie kommt einem seit einiger Zeit bekannt vor, wenn man die Untergangszenarien radikaler Befürworter oder Gegner eines Brexits hört.
Buch
Martin Amis
London Fields
Dt. Erstausgabe: 1999
698 Seiten
(Kein & Aber 2019)