«Ich rackere mich für dich ab, und du hockst an der Strasse und putzt Schuhe wie die anderen kleinen Strassennigger», schimpft Lutie Johnson ihren achtjährigen Sohn Bubb aus, als sie ihn dabei erwischt, wie er heimlich einen Nebenjob ausübt. Dann ohrfeigt sie ihn. «Du hast gesagt, wir brauchen das Geld», platzt es aus dem Jungen heraus. «Mich ärgert, wie du das Geld verdienen wolltest», erklärt Lutie ihrem Kind. Seit vielen Jahren würden Schwarze Schuhe schrubben. «Weisse glauben anscheinend, das ist die einzige Art Arbeit, zu der sie taugen.»
Einblick in die schwarze Community
Die Szene spielt in Harlem, New York, in den 1940er-Jahren. Schauplatz der Geschichte ist die 116th Street in Manhattan, einem prekären Viertel, in dem überwiegend Schwarze wohnen. Die alleinerziehende Lutie versucht verzweifelt, sich und ihrem Sohn ein anständiges Leben zu ermöglichen. «Strassen wie die, in der sie lebte, waren kein Versehen. Sie waren sozusagen die Lynchmobs des Nordens, dachte sie bitter. Auf diese Weise hielten Grossstädte die Schwarzen gefügig.» Nach nur wenigen Seiten ist klar: Ann Petrys fulminanter Roman «The Street» ist heute, mehr als 70 Jahre nach seinem Erscheinen, immer noch hochaktuell.
Petry gelingt eine bildreiche Darstellung der Charaktere, etwa des weissen Hausmeisters, der Lutie nachstellt. Oder der Nachbarin, die ein Bordell betreibt. Dabei verurteilt die Autorin nicht, sondern schildert den ausweglosen Kampf aus einer Rassen- und Klassengesellschaft, aus der ein Ausbruch nahezu unmöglich ist. Ist die furchtlose Lutie anfangs noch davon überzeugt, dass «jedermann reich werden könnte, wenn er wollte und hart genug dafür arbeitete», muss sie bald einsehen, dass sie sich trotz aller Mühen mit ihren Jobs nicht aus der Armut retten kann.
Der 1946 in den USA erschienene Roman der Pharmazeutin und Journalistin Petry traf die USA ins Mark. Es war das erste Buch einer Afroamerikanerin, das mit über 1,5 Millionen Verkaufsexemplaren ein Bestseller wurde. Petry gibt Einblick in die schwarze Community und zeigt, wie eine weisse Gesellschaft diese dominiert. Der Roman spielt in einer Zeit, in der Rassentrennung noch gesetzlich verankert und gesellschaftlich oft eine Selbstverständlichkeit war.
Aufwühlend und «beklagenswert aktuell»
Nachdem ihr Sohn bei einem Diebstahl erwischt wird, steuert Lutie auf einen blutigen Abgrund zu. «Keine schöne Geschichte, sondern eine lebendige, die voller Gewalt ist, uns das Leben von einer anderen Perspektive zeigt und zum Denken anstösst», war 1946 in einer US-Zeitung über das Buch zu lesen. Eine Rezension, die noch heute Gültigkeit hat – Petrys Text ist aufwühlend und absolut lesenswert.
Die nun erschienene Neuausgabe wurde von der in Hamburg lebenden Uda Strätling aus dem Englischen übersetzt. Diese hat schon einige Titel von Afroamerikanern übersetzt. Die Proteste in den USA, in anderen Teilen der Welt und auch in der Schweiz zeigen, wie verzweifelt Schwarze immer noch angesichts des strukturellen Rassismus sind. Auf Anfrage kommentiert Übersetzerin Strätling: «Leider bleibt Ann Petrys klarblickende Darstellung und Analyse der Verhältnisse beklagenswert aktuell.»
Buch
Ann Petry
The Street
450 Seiten
Erstausgabe 1946 (Nagel & Kimche 2020)