Die Grossmutter hat ihm einen Schatz an alten Liedern und Mythen der kirgisischen Nomaden hinterlassen, seine Eltern haben ihn an die Literatur herangeführt. Schon früh hat Tschingis Aitmatow (1928–2008) den Zauber und die Macht der Geschichten kennengelernt. Mit 14 Jahren muss er während des Kriegs die Schule verlassen, doch der frühe Kontakt mit der Literatur hat ihn geprägt. Eine weitere einschneidende Erfahrung ist das Schicksal des Vaters, der Opfer der stalinistischen Repression wird.
Von ungestümer Liebe und tragischer Sturheit
Der junge Aitmatow beisst sich durch, holt den Schulabschluss nach, studiert Veterinärmedizin, bis er 1956 zu seiner wahren Leidenschaft findet: Er schreibt sich am Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau ein, wo er mit der später weltberühmten Novelle «Dshamilja» abschliesst. Die Geschichte rund um eine verbotene Liebe in der kirgisischen Steppe, die mit allen Traditionen bricht, ist Teil des neu erschienenen Erzählbands im Unionsverlag.
Weniger bekannt, aber ebenso berührend ist die im Band enthaltene Novelle «Du meine Pappel im roten Kopftuch». Im Mittelpunkt steht der junge Fahrer Iljas: Mit seiner ungestümen Leidenschaft erobert er die scheue Asselj, die nach altem Brauch bereits einem Mann aus der Nachbarsippe versprochen ist. Die beiden brennen nach einer Nacht am Ufer des Sees Issyk-Kul gemeinsam durch. Bald kommt Sohn Samat auf die Welt, und die drei könnten ein einfaches, glückliches Leben führen.
Doch durch seinen unbändigen Stolz wird der hitzköpfige Iljas alles verlieren, was ihm lieb ist. Aus lauter Sturheit will er seinen Arbeitskameraden beweisen, dass er mit seinem Wagen inklusive vollgeladenem Anhänger den Dolon-Pass überqueren kann. Das gewagte Projekt geht schief, und sein Stolz ist so schwer verletzt, dass er weder seiner geliebten Frau Asselj noch seinem besten Freund Alibek mehr in die Augen schauen kann und dem Wodka verfällt. Der gebrochene Iljas erzählt seine Geschichte im Rückblick einem Passagier auf einer Zugfahrt – immer den tragischen Ausgang vor Augen. Der Zuhörer ist ein Journalist, der von der Geschichte noch eine andere Perspektive kennt, wie die Leser am Ende erfahren.
Drei Jahrzehnte unter Verschluss
Aitmatow vermag seine Leser mit seiner klaren, poetischen Sprache zu fesseln. Die Handlung verknüpft er mit bildhaften Landschaftsbeschreibungen, welche die Gefühle der Protagonisten widerspiegeln. So entsteht vor dem inneren Auge die beeindruckende Landschaft im Kirgisistan der Nachkriegszeit, das von alten Traditionen, aber auch vom Sozialismus geprägt war.
Für die dritte Liebesgeschichte im Band musste der Autor einst Kritik einstecken. «Aug in Auge» beschreibt die heimliche Rückkehr des Deserteurs Ismail. Seine Frau Sejde bietet ihm Schutz und kämpft gegen alle Widerstände. Die 1958 erschienene Erzählung wurde zensuriert – die Rebellion eines Einzelnen gegen das politische System war damals ein Tabu. Erst 1989, als Aitmatow als Michail Gorbatschows Berater tätig war, konnte er seine Geschichte ohne Zensur veröffentlichen.
Buch
Tschingis Aitmatow
Liebesgeschichten – «Dshamilja», «Du meine Pappel im roten Kopftuch», «Aug in Auge»
288 Seiten
(Unionsverlag 2018)