Die junge Maggie spürte «in ihrem Herzen die Kälte des Todes». Denn sie kämpfte in stürmischer Nacht gegen meterhohe Wellen an. «Maggie flüsterte atemlos ein Gebet» und lavierte ihr kleines Boot mit Glück in die Richtung des Schmugglerkahns ihres Vaters auf hoher See.
So dramatisch ist die Geschichte «Der Zorn des Meeres» des irischen Schriftstellers Abraham «Bram» Stoker (1847–1912) angelegt. Er ist als Autor von «Dracula» in die Literaturgeschichte eingegangen und hat daneben vieles mehr geschrieben: Nicht alles, aber das meiste lehrte seinen Lesern das Gruseln. In diese Kategorie gehört die Schicksalsgeschichte von Maggie Whirter und ihrem Verlobten Willy Barrow. Die rührende Erzählung ist jetzt unter dem Titel «Der Zorn des Meeres» erstmals auf Deutsch erschienen.
Pflichterfüllung als oberstes Gebot
Maggie will ihren Vater auf hoher See verzweifelt vor den Zollbehörden warnen, die ihn an der schottischen Küste von Aberdeenshire mit seinem Schmuggelgut im Empfang nehmen wollen. Unter ihnen ist der Küstenwächter Willy, der Verlobte der tapferen Maggie, der seine Pflicht erfüllen muss.
Der wackere Willy weiss, dass Maggies Vater den Behörden ins Netz gehen wird. Aber er weigert sich trotz inständiger Bitte seiner Verlobten, diesen vor dem drohenden Verhängnis zu warnen. Denn für Willy ist die Pflichterfüllung gegenüber seinen Vorgesetzten oberstes Gebot. So muss sich Maggie selbst in einem Boot zu ihrem Vater in der Nordsee durchkämpfen. Es entspinnt sich ein Zweikampf zwischen Mensch und Meer.
Willys unerbittliche Gesetzestreue erscheint in dem Text keineswegs ironisch oder gar verwerflich. Der gebürtige Ire Stoker glaubte vielmehr an Autoritäten. Er war ein leidenschaftlicher Monarchist und hielt von der irischen Unabhängigkeit gar nichts. Seine grösste Liebe galt jedoch dem Theater. Er war jahrelang Manager des damaligen Bühnenstars Henry Irving, eines Meisters düsterer Rollen wie «Macbeth». In späteren Jahren konnte sich Bram Stoker ganz dem Schreiben widmen, fand aber nie die Anerkennung, die ihm seines Erachtens zugestanden wäre. Den Welterfolg seines Spätwerks «Dracula» erlebte er nicht mehr.
Packende Geschichte trotz gestriger Sicht
Die Handlung der 1895 unter dem Titel «The Watter’s Mou’» erschienenen Novelle spielt im Küstenabschnitt von Cruden Bay, den Stoker aus eigener Erfahrung kannte. Auf langen Spaziergängen erkundete er diese Felsenküste von Aberdeenshire. Auch wusste er, dass die Gegend immer wieder Abenteurer anzog, die es mit den Buchstaben des Gesetzes nicht genau nahmen.
Wer nun hinter dem Autor der Schicksalsgeschichte einer unerschrockenen Frau einen heimlichen Feministen der ersten Stunden vermutet, täuscht sich. Denn für Stoker war die Hierarchie der Geschlechter klar: «Der Kummer einer Frau rührt einen starken Mann umso mehr, je stärker er ist», schreibt er, um die Persönlichkeit des pflichtbewussten Willy zu illustrieren. Auch wenn die weltanschaulichen Werte in dieser Erzählung aus heutiger Sicht gestrig sind, die Lektüre lohnt sich. Die Geschichte packt und lässt einen bis zum dramatischen Ende nicht mehr los.
Buch
Bram Stoker
Der Zorn des Meeres
Aus dem Englischen von Alexander
Pechmann
173 Seiten
(Mare 2020)