Emil Fundholz hat die besten Jahre hinter sich. Mit mehr als leiser Wehmut erinnert er sich an Zeiten, da er «Geld verdient, ein Heim und eine Frau gehabt» hat. Nun zieht er als Bettler durch Berlin, freut sich über jede Tasse Milch, jeden Teller Suppe. Und wenn er einige Pfennige in die Hand gedrückt bekommt, gibt er sich generös und lädt den debilen Tönnchen zum Essen ein. Emil Fundholz ist einer von Zehntausenden Arbeitslosen im Berlin der frühen 1930er, von Millionen in ganz Deutschland, das nach Erstem Weltkrieg und Wirtschaftskrise am Boden liegt. Und Fundholz ist einer der Protagonisten im bemerkenswerten Roman «Menschen neben dem Leben».
Zwischen Sozialreportage und Grossstadtroman
Das Erstlingswerk von Ulrich Alexander Boschwitz (1915–1942) erscheint erstmals im deutschen Original. 1937 hatte es der damals 22-jährige Autor auf Schwedisch im selbst gewählten Exil publiziert, nachdem er vor den Nazis aus Berlin geflohen war. Mit spürbarer Ergriffenheit nahm sich Boschwitz schreibend der menschlichen Misere seiner Heimatstadt an, die er nicht am eigenen Leib, aber aus direkter Anschauung erlebt hatte.
So sind seine Figuren zwar fiktiv, aber lebensecht gezeichnet. Boschwitz gibt diesen sozial Gefallenen buchstäblich eine Stimme, indem er ihre Erlebnisse, Gefühle und Gedanken rapportiert. Zu Emil Fundholz und Tönnchen gesellt sich der entlassene Tramschaffner Grissmann, der sich als Gelegenheits-Erpresser versucht und vom «ganz grossen Coup» träumt. Alle drei kennen Sonnenberg, dem im Krieg das Augenlicht weggeschossen wurde und der nun Streichhölzer verkauft. Dessen Frau Elsi beginnt mit dem noch schneidig wirkenden Grissmann zu flirten, was nicht ohne Folgen bleiben wird. Quer durch die Stadt findet Boschwitz weitere Figuren wie die Prostituierte Minnchen Lindner oder die verzweifelte Frau Fliebusch, die nach «ihrem Wilhelm» sucht, «der doch gar nicht tot sein kann». Sie alle – und noch einige mehr – treffen sich im grossen Finale in der Kiezkneipe «Fröhlicher Weidmann», wo sie ihren Kummer bei Tanz und Bier zu vergessen suchen.
Boschwitz packt diese Schicksale in einen rasanten Mix aus Grossstadtroman und Sozialreportage, wobei sein Tonfall nie sachlich oder nüchtern ist. Kunstvoll wechselt er zwischen Aussen- und Innensicht seines Personals, was sich in ironischen Brechungen und zeitkritischen Kommentaren offenbart. «Das meiste Unglück kommt vom Wissen», lässt er Fundholz denken. «Wer nichts weiss, kann sich auch nicht darüber ärgern.» Grissmann beobachtet: «Von Amerika waren neue Ideen nach Europa gelangt. Sie bestanden im Wesentlichen darin, dass man die menschliche Arbeitskraft durch sinnreiche Systeme auf ein Mindestmass beschränkte.» Solche Sätze – vor über 80 Jahren von einem 22-Jährigen geschrieben – prägen diese literarische Wiederentdeckung.
Manuskripte im Atlantik versunken
Herausgeber Peter Graf kommentiert den Roman in einem erhellenden Nachwort. Bereits 2018 hat er Boschwitz’ zweiten Roman «Der Reisende» veröffentlicht. Andere Manuskripte sind mit dem jungen Autor, der bei der Torpedierung eines Passagierschiffes 1942 ums Leben kam, im Atlantik versunken.
Buch
Ulrich Alexander Boschwitz
Menschen neben dem Leben
Hg. Peter Graf
Deutsche Erstausgabe
(Klett-Cotta 2019)