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Gelesen haben ihn alle. In der Schule manche derart ausgiebig, dass sie sich nur ungern an
Gottfried Keller (1819–1890) zurückerinnern. Andere feierten ihn als poetisch-fidelen Gegenpart zum trocken-lehrhaften C.F. Meyer und schworen ihm ewige Liebe. So wohl auch der Hamburger Schauspieler Thomas Sarbacher, der die neueste Staffel seiner Lesereihe im Theater Winkelwiese in Zürich dem politischen Keller widmet.
Dass er hierfür auf «Die Leute von Seldwyla» zurückgreift, mag erstaunen, wird die Novellen-Sammlung doch gemeinhin der Narrenliteratur zugeordnet. Tatsächlich zeichnete Keller darin Lebens- und Charakterbilder mit ironischem Unterton, zuweilen gar deftig satirischem Anstrich. Die Seldwyler umschrieb er als gemütlich bis leichtsinnig und ohne Zielstrebigkeit.
Schweizer Untugenden
Trotz dieses eher südländischen Temperaments stattete Keller sein fiktives Völklein aber auch mit einigen typisch schweizerischen Untugenden aus wie dem Hang zu Spekulation und «trefflichem Schuldenverkehr» oder politischem Opportunismus. Die ersten Novellen hatte Keller Mitte der 1850er-Jahre in Berlin geschrieben. Die letzten 20 Jahre später als Zürcher Staatsschreiber. Die satirische Kolorierung ist soziopolitisch zumindest grundiert, befanden analytische Leser wie Walter Benjamin oder der ungarische Literaturkritiker und Marxist Georg Lukács, der Seldwyla gar als Gegenentwurf zum tugendreichen Utopia sah.
Als solcher hat Seldwyla einen Platz in der Weltliteratur gefunden. Vor allem Novellen wie «Romeo und Julia auf dem Dorfe», «Kleider machen Leute» oder «Die missbrauchten Liebesbriefe» wurden übersetzt, verfilmt oder zu Opernstoffen.
Sarbacher erzählt Gottfried Keller
Dienstags: 4.11., 18.11., 16.12., 6.1., jeweils 20.30
Theater Winkelwiese Zürich
Gottfried Keller
«Die Leute von Seldwyla»
Erstausgabe: 1873–1875
Heute erhältlich bei Suhrkamp.
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