Romantisches Anhimmeln einer Unerreichbaren. «Ihre weiche Hand … sie war so zart, weil sie nie damit gearbeitet hatte. Der Abgrund zwischen ihm und ihr riss wieder auf.» Der junge Matrose Martin Eden hat sich in die gebildete Bürgerstochter Ruth Morse verliebt. Sie erscheint ihm zwar unerreichbar, dennoch scheut er keinen Aufwand, um ihre Gunst zu gewinnen.
Das ist die Ausgangslage des autobiografischen Romans «Martin Eden» vom US-Schriftsteller Jack London, den er 1909 geschrieben hatte. Das Buch ist nun in neuer Übersetzung erschienen und eignet sich hervorragend, den Zugang zu einem Autor zu finden, der in der deutschsprachigen Welt wenig Beachtung findet.
Verdingt in einer Konservenfabrik
Der Held Martin Eden erkennt schnell, dass nur ein Weg zu seiner Angebeteten führt – Wissen. So unterzieht er sich einer autodidaktischen Radikalkur: «Am härtesten war es, die Physik- und Algebrabücher zuzuklappen, Papier und Bleistift zur Seite zu legen und die müden Augen zum Schlafen zu bringen.» Die etwas hochnäsige, ziemlich naive Ruth Morse nimmt Edens Bildungsanläufe amüsiert zur Kenntnis. Sie bewundert vielmehr seine von der Seefahrt gestählten Muskeln, er weckt in ihr unbekannte Gefühle.
Der Schriftsteller Jack London (1876–1916) wuchs in prekären familiären Verhältnissen in Kalifornien auf, sein wahrscheinlicher Erzeuger, ein spiritistischer Wanderprediger, stritt bis zuletzt seine Vaterschaft ab. Jack London musste sich als Kind in einer Konservenfabrik verdingen, holte die fehlende Bildung im Selbststudium nach. Mit 15 ging er zur See, versuchte sich als Goldgräber in Alaska und kehrte mittellos nach San Francisco zurück. London begann zu schreiben, liess sich von Absagen nicht vergrämen – und hatte Riesenerfolg. Der Autor schrieb sich zum wohlhabenden Mann, und er fand mit seiner zweiten Frau eheliches Glück. Zeit seines Lebens trank er jedoch ziemlich viel, wahrscheinlich zu viel, auch wenn die Todesursache ungeklärt blieb. Ein Suizid ist denkbar, weil er unkontrollierte Mengen von Medikamenten schluckte. London scheiterte an seinem gesellschaftlichen Aufstieg.
Die Geschichte vom Romanhelden Martin Eden verknüpft der Autor eng mit der Beziehung zu seiner grossen Liebe Ruth Morse. Dabei flicht er raffiniert kontrastierende Figuren ein, wie zum Beispiel Edens Schwager, einen kleinbürgerlichen Rüppel der ganz reaktionären Sorte. Der Schriftsteller war Zeit seines Lebens ein Sozialist romantischer Prägung und engagierte sich politisch, ohne je zu reüssieren. London wie Martin Eden bewunderten den englischen Sozialdarwinisten Herbert Spencer, der im 19. Jahrhundert das Geistesleben der angelsächsischen Welt mitprägte.
Mit dem Ruhm wächst auch das Ansehen
Martin Eden entdeckt in seiner Not genauso wie der Autor seine Freude am Schreiben. Der Protagonist steigert sich in einen Wahn und schreibt fanatisch, weil er von seinem Talent überzeugt ist. Selbstzweifel plagen ihn selten, zumal er nach und nach reüssiert. Seine angebetete Ruth ist jedoch gegenüber seinen schriftstellerischen Versuchen sehr skeptisch; doch mit dem Ruhm wächst ihre Anerkennung. Stellt sich die Frage, ob das die wahre Liebe bedeutet.
Jack London
«Martin Eden»
Erstmals auf Deutsch: 1927
Neuübersetzung von Lutz-W. Wolff Erhältlich bei dtv.