Seine Biografen haben «mit Gipsmörtel einen gewaltigen Brontosaurier zusammengekleistert». Mit diesem Skelettvergleich stösst der US-amerikanische Schriftsteller Mark Twain (1835–1910) den elisabethanischen Stückeschreiber William Shakespeare (1564–1616) vom Sockel der Verehrung. Denn mit dem Dichter verhalte es sich genauso wie mit den archäologischen Knochen: Ein paar schäbige Indizien müssten genügen, um den Dinosaurier so zusammenzusetzen, wie er ausgesehen haben könnte. Und das hat laut Twain ein verlogenes Bild von William Shakespeare ergeben.
Vergnügliche Polemik
Nun verfügt die Dinosaurier-Forschung seit dem späten 19. Jahrhundert ebenso wie die Literaturwissenschaft über wesentlich mehr Erkenntnisse. Heute würde kein ernsthafter Kritiker mehr behaupten, dass Shakespeare seine 37 Theaterstücke und Sonette nicht selbst geschrieben habe. Das tut jedoch der Lektüre von Mark Twains Polemik gegen den Dichter und seine Bewunderer keinen Abbruch. Denn der Satiriker verpackte in seine Schrift Weisheiten, die allgemeingültig sind: «Mir ist bewusst, dass der klügste Geist dieser Welt, wenn ihm von klein weg ein beliebiger Aberglaube eingebläut wurde, es nicht vermag, im reifen Alter an diesem Aberglauben zu zweifeln.»
Für Twain ist klar, dass Shakespeare ein Hirngespinst abgehobener englischer Feingeister ist, die im Vergleich zum modernen Amerika von vorgestern sind: «Sie wissen aus langjähriger Erfahrung, dass eine Vermutungs-Kaulquappe, der sie habhaft werden, in ihrem Geschichts-Aufbewahrungsbecken nicht immer eine Kaulquappe bleiben wird; nein, sie wissen, wie man sie in einen riesigeren, vierbeinigen Tatsachen-Ochsenfrosch verwandelt, der wichtigtuerisch auf seinen Hinterbeinen sitzt.» Und quakt, versteht sich.
Der Piper-Verlag hat nun erfreulicherweise das Anti-Shakespeare-Pamphlet der Autobiografie von Mark Twain entnommen und es zum 400. Todestag des Dichters erstmals auf Deutsch veröffentlicht. Der Band ist ein erfrischender Farbtupfer in der Flut der Publikationen, die zum Jubiläum erscheinen.
Verschwörungstheorie
Twain war keineswegs dazu berufen, sich über die englische Theatergeschichte Gedanken zu machen. Ursprünglich war er ein Schiffslotse. In späteren Jahren errang er internationale Anerkennung mit den Jugendbüchern «Tom Sawyers Abenteuer und Streiche» sowie «Abenteuer und Fahrten des Huckleberry Finn», die Generationen von Kindern prägten. Das 16. Jahrhundert war ihm etwa so fremd wie die Metamorphose von Fröschen.
Das stört ihn keineswegs. Mark Twain wäre nicht Mark Twain, wenn er nicht gleich einen alternativen Shakespeare aus dem Hut zaubern könnte: Für ihn ist der Philosoph Sir Francis Bacon (1561–1626) der wahre Verfasser dieser Theaterstücke. Twain führt dies auf die lange Juristenlaufbahn von Bacon zurück, der demnach über das nötige juristische Fachwissen verfügte, das Shakespeare, «dem Schlachterlehrling von Stratford», abging. Twain kam nicht selbst auf diese Idee, sie irrlichtert seit dem frühen 19. Jahrhundert durch die Geisteswelt und taucht immer wieder auf – wie zahlreiche andere Verschwörungstheorien rund um den Stückeschreiber.
Twain konstatiert allerdings richtig, dass Shakespeare zum Zeitpunkt seines Todes im Städtchen Stratford kein berühmter Mann gewesen war und erst Jahrzehnte später postum geehrt wurde. Tatsächlich war es damals nicht von öffentlichem Interesse, wer denn diese Stücke geschrieben hatte, die das Theaterpublikum in London und in der Provinz begeisterten.
Geschickt abgekupfert
Shakespeare vermochte meisterhaft, alte Stoffe aufzupeppen: Er konnte geschickt abkupfern und liess andere an seinen Stoffen Hand anlegen. Dies belegt etwa der US-Literaturwissenschaftler James Shapiro in seinem Buch «1606: Shakespeare and the Year of Lear». Shakespeare liess sich demnach für dieses Stück von einer alten Prosafassung der Geschichte um den tragisch scheiternden König Lear anregen. Der Meister erkannte die Stärken der Handlung für die Bühne und schrieb eines seiner wichtigsten Stücke.
Twains Fehlinterpretation von Shakespeare schmälert das Lesevergnügen keineswegs. Man darf die Polemik geniessen, etwa wenn Twain das berühmte Shakespeare-Porträt kommentiert, das auf die Pilger herabblickt «mit dem feinsinnigen Ausdruck einer Harnblase». Und wer davon nicht überzeugt ist, darf sich frohgemut zu den «Höhlenmenschen» zählen, wie der alte Schlawiner diejenigen nennt, die das Dichtergenie bewundern.
Buch
Mark Twain
«Ist Shakespeare tot?»
Erstmals auf Englisch erschienen (Autobiografie):
Oper
1909
(Piper 2016).
Theater
Macbeth
Oper in vier Akten
So, 17.4., 18.00
Di, 19.4., 19.00
Sa, 23.4., 19.00
Do, 28.4., 19.00
Opernhaus Zürich
Romeo und Julia
Bis Sa, 21.5., verschiedene Spielorte – www.theater-basel.ch
Wir sind Shakespeare
Premiere: Fr, 15.2., 20.00
Eisenwerk Frauenfeld TG