So spielt das Leben, zumindest in Romanen: «Er möge seinen Lebenskreis sofort verlassen, um zu einem Gentleman – kurz, wie ein junger Herr mit grossen Erwartungen erzogen zu werden.» Die Anweisung richtet sich an den jungen Pip, der in ärmlichen Verhältnissen lebt. Ein unbekannter Gönner will für seine Ausbildung aufkommen und ihm ein «ansehnliches Vermögen» hinterlassen.
Kindheit am Rand des öden Marschlandes
Das ist eine Schlüsselszene im Roman «Grosse Erwartungen» des englischen Autors Charles Dickens (1812–1870). Er ist ein Leuchtturm der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Dickens ist mit Meisterwerken wie dem autobiografischen Roman «David Copperfield» oder der anrührenden Erzählung «Eine Weihnachtsgeschichte» weltberühmt geworden.
In «Grosse Erwartungen» berichtet der Ich-Erzähler, der Waisenjunge Pip, von seiner trostlosen Kindheit am Rand des ostenglischen Marschlandes. Seine tranige Schwester sollte sich um ihn kümmern, tatsächlich findet er nur bei ihrem herzensguten Mann Geborgenheit. Auf einem Friedhof begegnet Pip einem entlaufenen Sträfling, dem er bei der Flucht hilft. Der Mann wird dennoch erneut gefasst. Unterdessen trifft Pip auf die wohlhabende Miss Havisham und deren Adoptivtochter Estella, in die er sich verliebt. Als er von seinen «grossen Erwartungen» erfährt, nimmt er an, dass Miss Havisham dahintersteckt. Doch der Leser ahnt, dass sich für Pip vielmehr die Unterstützung des Strafgefangenen ausbezahlt hat. Wie immer bei Dickens nimmt die Handlung eine unerwartete Wende. So gründet die Grosszügigkeit, von der Pip profitiert, weniger in christlicher Nächstenliebe als vielmehr in dem schon damals wohlorganisierten Verbrechen. Dennoch kommt es zu einem Happy End, doch der Autor gönnte dies seiner Leserschaft erst, nachdem seine Freunde von einer ersten, betrüblichen Version abgeraten hatten.
Dickens schrieb den 1860/61 erschienenen Roman «Grosse Erwartungen» in der Not. Er hatte sich nach jahrelanger Entfremdung von seiner Frau Catherine Hogarth soeben getrennt, das Paar hatte zehn Kinder. Er wandte sich nun offen der Schauspielerin Ellen Ternan zu, mit der er jahrelang ein geheimes Verhältnis hatte – ein toller Skandal in einer Zeit, die Beziehungstragödien liebte. Dickens brauchte Geld, zumal er sich mit seinem Verleger verkracht hatte. Er fürchtete nichts so sehr wie die Armut und schrieb den neuen Roman für sein Magazin «All the Year Round», das ähnlich wie die deutsche «Gartenlaube» vor allem wissbegierige Leserinnen entzückte.
«Grosse Erwartungen» bietet einen packenden Einstieg in das 19. Jahrhundert. Der Autor belegt exemplarisch, wie wirtschaftliche Voraussetzungen die Menschen charakterlich prägen. So verfällt Pip dem Hochmut, als er von seiner vielversprechenden Zukunft erfährt. Oder seine geliebte Estella entdeckt ihre Gefühle erst für ihn, als sie auf eine einigermassen gesicherte Zukunft hoffen kann.
Buch
Charles Dickens
Grosse Erwartungen
Deutsche Erstausgabe: 1864
Heute erhältlich im Insel Verlag