«Manchmal muss man fliehen, wenn man nicht sterben will.» Mit diesem Satz schockiert die Universitätsdozentin Leda im Roman «Frau im Dunkeln» in den Strandferien in Süditalien eine neapolitanische Familie. Aus dem Nichts heraus erzählt sie ihnen, dass sie als junge Mutter ihre Kinder verlassen hat: «Ich habe sie sitzenlassen, als die Grosse sechs war und die Kleine vier.» Nach drei Jahren habe sie die Töchter wieder zu sich genommen. Eine Zeit in ihrem Leben, über die sie sonst nie spricht. Dementsprechend blossgestellt fühlt sie sich nach dem unvermittelten Geständnis.
Schon in ihren frühen Romanen geht Elena Ferrante, die mit ihrer vierbändigen neapolitanischen Saga für weltweites Aufsehen sorgte, an die Schmerzgrenze. Seit das sogenannte «Ferrante-Fieber» ausgebrochen ist, erscheinen im Suhrkamp Verlag auch ihre Frühwerke.
Eine Mutter zerbricht an den Erwartungen
Die Sehnsucht nach einem anderen Leben, die Rolle der Frau in patriarchalen Systemen und Bildung als Schlüssel zur Selbstverwirklichung durchziehen ihr Werk. Im 2006 erschienenen und von Anja Nattefort ins Deutsche übersetzten Roman «Frau im Dunkeln» geht Ferrante den ambivalenten Gefühlen einer Mutter zwischen Aufopferung und Selbstverwirklichung schonungslos auf den Grund: Die 48-jährige Leda wird in ihren Ferien von Erinnerungen übermannt. Am Strand beobachtet sie die junge Nina, die vollkommen im innigen Spiel mit ihrer kleinen Tochter und deren Puppe aufgeht, und schwankt dabei zwischen Sympathie und Neid. Umgeben sind die beiden von einer lärmenden Grossfamilie, die in Leda Widerwillen auslöst, da es sie an ihre eigene Herkunft in Neapel erinnert. Diesem einengenden Milieu war Leda entflohen und hatte in Florenz studiert, ihre Karriere gestartet – bis sie schwanger wurde. «So war mit fünfundzwanzig für mich jedes andere Spiel gelaufen», hält sie in der Erinnerung nüchtern fest. Während ihr Mann durch die Welt reist und Karriere macht, kümmert sie sich um die Kinder – bis sie an den Erwartungen, die andere und sie selbst an die Mutterschaft stellen, zerbricht und die Flucht als radikale Lösung wählt.
Entgegen den üblichen Bildern von Mutterschaft
Inzwischen sind ihre Töchter erwachsen, leben beim Vater in Kanada. Zu Beginn fühlt sich Leda befreit von einer Last, geniesst die Freiheit. In den Ferien tauchen jedoch unverarbeitete Schuldgefühle auf. Die neapolitanische Familie löst in ihr gleichermassen Faszination und Abscheu aus, und sie lässt sich zu einer Tat hinreissen, die sie sich selbst nicht erklären kann…
Elena Ferrante findet für die innere Zerrissenheit ihrer Figur starke Bilder, die mit den üblichen Vorstellungen von Mutterschaft brechen, teilweise an
Tabus anrühren und die dunklen Seiten nicht verschweigen. Als die junge Mutter Nina Leda nach dem Grund fragt, warum sie damals ihre Töchter verlassen hatte, sagt sie ihr: «Ich liebte sie zu sehr, und ich hatte das Gefühl, meine Liebe zu ihnen hinderte mich daran, ich selbst zu werden.»
Buch
Elena Ferrante
Frau im Dunkeln
Erstausgabe: 2006
Heute erhältlich bei Suhrkamp