Er gilt als einer der grossen Schriftsteller seiner Zeit. Und liest man sein Buch «Aline», so weiss man, warum. Oder auch nicht. Denn wie kann es sein, dass ein Autor mit einer einfachen Liebesgeschichte aus der Provinz – mehr als 100 Jahre nach ihrer Entstehung – die Leserinnen und Leser noch immer mitten ins Herz trifft?
Erzählt wird von Aline. «Sie war mager und ein wenig blass, siebzehn war sie, in einem Alter, wo die Mädchen leicht die gute Farbe verlieren, und auf der Nase hatte sie Sommersprossen. Trotzdem, sie war hübsch.» Vielleicht auch etwas naiv und unerfahren, wagt man zu denken, was ihr wohl zum Verhängnis wird. Denn Julien, der Sohn des Bürgermeisters, findet Gefallen an diesem scheuen Mädchen und hat ein leichtes Spiel, sein Herz zu erobern. Doch einmal sein Ziel erreicht, lässt er Aline fallen. In höchster Not. Denn sie ist schwanger… Und wird ihr Schicksal mit dem Tod besiegeln.
Ein langwieriger Entstehungsprozess
Klein und eng ist die Welt, in der diese dramatische Geschichte ihren Lauf nimmt. Tiefste Schweizer Provinz, so scheint es. Doch Charles-Ferdinand Ramuz wird am 24. September 1878 nicht auf dem Land, sondern in der Stadt Lausanne geboren, wo sein Vater ein Kolonialwarengeschäft führt und später eine Weinhandlung eröffnet. Ramuz sieht seine Zukunft nicht in dieser kleinbürgerlichen Welt seiner Eltern, er wird Altphilologie studieren. Als Hauslehrer verschlägt es ihn nach Karlsruhe und später nach Paris. Mehr als zehn Jahre verbringt er als Dichter in Frankreichs Metropole, lernt dort seine Frau, die Neuenburger Malerin Cécile Cellier, kennen. Oder den russischen Komponisten Igor Strawinsky, mit dem er das Musiktheater «Histoire du Soldat» erarbeitet.
Ramuz scheint zeitlebens mit sich und der Welt zu hadern. Er fühlt sich überfordert, missverstanden. Dies geht aus seinen Tagebüchern und der Entstehungsgeschichte seines Debütromans «Aline» hervor. Wie der Literaturwissenschafter Daniel Maggetti im Nachwort der Neuauflage schildert, hat Ramuz bereits 1904 eine Erstversion des Romans fertiggestellt. Er verwirft sie, um gleich mit einer zweiten zu beginnen. Aber auch damit ist er nicht zufrieden, und so entsteht Fassung um Fassung, bis 1905 das Buch in einer Erstauflage erscheint.
«Heftiges Seelentoben in kraftvollen Bildern»
«Ramuz gehört zu jenen Dichtern, die ahndungsvoll, unwissend ihr heftiges Seelentoben in kraftvolle Bilder umsetzen können. Alles Leiden wird Bild», hielt der inzwischen verstorbene Schweizer Autor Urs Widmer 1990 in einem Essay über Ramuz’ Arbeit in der «Zeit» fest. Wie wahr, beschreibt doch Ramuz nach Abschluss seines Buches im Jahr 1905 seine Befindlichkeit wie folgt: «Nachdem ich das Wort Ende geschrieben hatte, war mir nach Weinen zumute wie einem kleinen Mädchen, das einen Klecks in ihr Schönschreibheft gemacht hat.»
Zu diesem Zeitpunkt hat Ramuz die Geschichte maximal aufs Minimum reduziert. Mit einfacher, klarer Sprache setzte er seine messerscharfen Worte wie feine Akupunkturnadeln genau dahin, wos wehtut. Vielleicht wirkt «Aline» – auch über 100 Jahre später – darum so seltsam aktuell.
Buch
C.F. Ramuz
Aline
Erstauflage: 1905
Neuauflage übersetzt von Yvonne und Herbert Meier
(Limmat 2019)