«Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.» Den berühmten ersten Satz von Marcel Prousts «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» übersetzt Bernd-Jürgen Fischer genau gleich wie vor ihm die Übersetzerin Eva Rechel-Mertens.
Es ist etwa der siebte Versuch und ein äusserst verdienstvoller Ansatz des deutschen Linguisten Fischer: Denn anders als seine Vorgänger verzichtet er auf Glättungen in Prousts sperriger Sprache mit den unübersichtlichen Satzungetümen. Wenn sich ein Originalsatz auf Französisch über viele Zeilen episch ausbreitet und dem Leser viel Konzentration abfordert, tut es der Satz auf Deutsch genauso. Auch wenn er wie im französischen Urtext kaum auf Anhieb lesbar, geschweige denn vorlesbar ist.
Ein langsamer Genuss
Genau diese sprachliche Komplexität macht Proust spannend und wertvoll. Neben den Bandwurmsätzen auch in den kurzen, geradezu lakonisch-präzisen Sätzen. Beide zwingen den Leser, ab und an mal einen Satz zweimal zu lesen, vielleicht sogar dreimal. Man muss die Worte auf der Zunge zergehen lassen wie der Erzähler die berühmten Madeleine-Biscuits der geliebten Tante Leonie.
Proust wieder lesen ist wie Madeleines essen. Ein langsamer Genuss, an dem man sich abarbeiten muss, der sich nicht von alleine einstellt, aber dessen Wert man nie überschätzen kann. Eine Madeleine taugt nicht zum Runterschlingen. Ihren einmaligen Geschmack entfaltet sie erst, wenn sie langsam im Munde zerfliesst. Prousts Prosa erschliesst sich einem nur, wenn man langsam Wort für Wort aufnimmt und in seinen persönlichen Bildgenerator im Hirn einspeist.
So bleibt man an Stellen hängen, die nicht wie die Episode der Madeleines zum Kanon des unverzichtbaren Kulturguts gehören. Etwa bei den verstörend beklemmenden Beschreibungen des Schlafzimmers im Haus der Grosseltern in Combray, dem «schmerzlichen Angelpunkt meiner bangen Erwartungen».
Vertrackte Welt
Das Schlafzimmer ist der «Schauplatz und das Drama meines Zubettgehens», wo der Ich-Erzähler als Prousts Alter Ego lebenslang leiden wird. Oder man geniesst mit neuem Blick das ungemein bissige, fast bösartig spöttische Bild der unbedarften, aber pompösen Verdurin und ihrer Entourage.
Man kann wunderbar eintauchen in die vertrackte schöne Welt des an sich und der Welt leidenden und zweifelnden, bisweilen aber ungemein leichtfüssig spöttischen Proust. Die manchmal mangelnde sprachliche Eleganz von Fischers Übersetzung hilft paradoxerweise mit ihrer Sperrigkeit dem Verständnis. Über ein paar fürchterliche und sinnentstellende Fehlübersetzungen muss man allerdings hinwegsehen. Am Genuss des Wiederlesens eines der grössten Romane der Literaturgeschichte tut das keinen Abbruch. Und wer sich die 694 Seiten Roman nicht aufs Mal zutraut, sucht mit grossem Gewinn im Anhang ein paar Episoden aus. Erstaunlich, wie gut sich diese einzeln lesen lassen – und für einen Moment der Musse mit Marcel Prousts stillstehender Zeit eignen.
Marcel Proust
«Auf der Suche nach der verlorenen Zeit».
Übersetzung: Bernd-Jürgen Fischer
Dt. Erstausgabe: 1926. Heute erhältlich bei Reclam.