Die junge Dorothea Brooke glaubt, die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben. Sie hat sich in den anscheinend klugen Gottesmann Edward Casaubon verliebt, der allerdings mehr als doppelt so alt ist wie sie: Er wollte «in diesen seinen besten Jahren den Trost weiblicher Zärtlichkeit für seine Jahre des Verfalls sichern», schreibt die Schriftstellerin George Eliot bissig. Der abgehobene Casaubon bringt indes denkbar schlechte Voraussetzungen in die Ehe mit der etwas naiven Frau mit, die im Lauf des Romans ihre Eigenständigkeit finden und zu einer Kämpferin wird – ein klassischer Entwicklungsroman also.
Unter männlichem Pseudonym veröffentlicht
Das Schicksal der lebenshungrigen Dorothea Brooke steht im Mittelpunkt des Romans «Middlemarch – eine Studie über das Leben in der Provinz» der englischen Schriftstellerin George Eliot (1819–1880), die eigentlich Mary Ann Evans hiess. Sie legte sich das männliche Pseudonym zu, weil es sich im 19. Jahrhundert für Frauen nicht schickte, mit Texten an die Öffentlichkeit zu treten. Jetzt ist «Middlemarch» auf Deutsch in einer neu bearbeiteten Auflage mit einem Vorwort der Zürcher Anglistik-Professorin Elisabeth Bronfen herausgekommen, die den emanzipatorischen Aspekt dieses Romans hervorstreicht.
Der ungewöhnliche Name «Middlemarch» steht für eine fiktive Stadt in Mittelengland. Der Roman ist eine fast 1000 Seiten lange Schicksalsgeschichte aus der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Eliot lässt die Handlungsstränge rund um das Schicksal von Dorothea Brooke vor dem Hintergrund der politischen Debatte um die Wahlrechtsreform von 1832 ablaufen, die den wohlhabenden Bürgern politische Rechte bescherte.
Die politischen Umwälzungen im Parlament stehen für den tief greifenden Wandel der damaligen Gesellschaft. Der Arzt Tertius Lydgate steht beispielsweise mit seinen modernen Behandlungsmethoden für den rationalen Fortschritt, der die alten Strukturen überwindet: «Wenn ich der Meinung bin, dass ich gewisse Beobachtungen und Untersuchungen verfolgen kann, die der medizinischen Praxis dauernden Nutzen verschaffen könnten, dann wäre ich ein gemeiner Kriecher, wenn ich mich (…) davon abhalten liesse», sagt er zu Dorothea.
Roman über die Tugenden des 19. Jahrhunderts
Die beiden sind zwar wesensverwandt, sie fühlt sich jedoch emotional zu Will Ladislaw, einem Cousin von Casaubon, hingezogen. Der gealterte Ehemann ahnt von dieser Liebe und versieht sein Testament mit einer Klausel, die Dorothea enterbt, sollte sie Ladislaw heiraten. Das menschliche Beziehungsgeflecht in «Middlemarch» ist so kompliziert, wie es klingt. Dabei stehen stets zwei Grundmotive menschlichen Handelns im Mittelpunkt: heftige Gefühle wie Liebe und Hass sowie die Gier nach Geld.
George Eliot hat einen urbürgerlichen Roman geschrieben. Die Tugenden des 19. Jahrhunderts werden darin hochgehalten: Nur Fleiss, Ehrlichkeit und Lerneifer helfen weiter, um die gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen zu verstehen.
Buch
George Eliot
Middlemarch
Aus dem Englischen von Rainer Zerbst
Dt. Erstausgabe: 1962
(dtv 2019)