Kerosin ist für Guy Montag ein Parfüm. Entzündet er es mit seinem Flammenwerfer, gerät er geradezu in Trance. Er steht dann inmitten der Funken, die von den brennenden Büchern aufsteigen, und ist ein stolzer Feuerwehrmann.
Diese Welt, in der Feuerwehrleute keine Retter, sondern eine Bücher verbrennende Zensurbehörde sind, schuf Ray Bradbury (1920–2012). «Fahrenheit 451» heisst sein Roman von 1953 – eine der bedeutenden literarischen Dystopien des 20. Jahrhunderts. Im August würde Bradbury seinen 100. Geburtstag feiern – der Diogenes-Verlag legt «Fahrenheit 451» aus diesem Anlass als Neuübersetzung auf.
Zensur zum angeblichen Wohl der Menschen
Der Romantitel bezieht sich auf die Temperatur, bei der sich Papier entzündet. Mit Stolz trägt Guy Montag die 451 auf seinem Helm. Schliesslich soll alles in Flammen aufgehen, was auf Papier gedruckt ist. Alles, was aufwiegeln könnte. «Ein Buch ist eine geladene Waffe», sagt Montags Kommandant Beatty einmal. Er begründet die Zensur mit dem Wohl der Menschen. Wenn man anfange, nach dem Warum zu fragen, «dann wird man am Ende ziemlich unglücklich». Eine zynische Aussage. Beatty und seine Truppe sind brutale Vollstrecker eines totalitären Staates, der seine Bevölkerung unmündig hält.
«Fahrenheit 451» war Ray Bradburys grösster Erfolg – auch dank François Truffauts Verfilmung von 1966. Dabei war der US-Amerikaner ein Vielschreiber, er hat unzählige Drehbücher, Kurzgeschichten und Romane verfasst. Der passionierte Leser betonte stets, er sei nie an einer Uni gewesen – seinen Abschluss habe er in Bibliotheken gemacht. So ist seine Dystopie auch eine deutliche Warnung: Wer nicht liest und wachsam ist, bringt die Demokratie in Gefahr. Das hatte selten so Gültigkeit wie in Zeiten des wuchernden Populismus.
In «Fahrenheit 451» sind einige wenige aufmerksam geblieben. Zum Beispiel die 17-jährige Clarissa. Das Mädchen aus der Nachbarschaft hält nichts von den tumben Seifenopern, den Freizeitparks und den Autorasereien, mit denen sich die Menschen betäuben.
Parallelen im heutigen Internetzeitalter
Stattdessen beobachtet Clarissa die Welt mit grossen Augen und bringt den Feuerwehrmann dazu, sein Leben zu hinterfragen. Sie tritt bei ihm einen Emanzipationsprozess los, der auch sprachlich Freude bereitet.
Wenn brüllende Düsenjäger stellvertretend für den verzweifelten Protagonisten schreien, erhält der Text poetische Qualitäten. Oder wenn Montag von der ständigen Seifenoperbeschallung der Videowand seiner Frau überwältigt wird: «Der schnatternde Haufen Baumaffen, die nichts sagten, nichts, nichts, und das auch noch laut, laut, laut.» Hin und wieder mag ein Dialog schwächeln, doch «Fahrenheit 451» liest sich noch immer packend. Wer will, kann den Roman als Medienkritik lesen – Parallelen finden sich im Internetzeitalter zuhauf. Man kann ihn auch einfach als Plädoyer eines Bücherfans und Humanisten sehen: fürs Lesen, für Empathie und Dialog und einen neugierigen Blick auf die Welt. Clarissa hält Guy Montag an, sich doch mal den Tau auf der Wiese anzuschauen. Ihre Aufforderung gilt für uns alle.
Buch
Ray Bradbury
Fahrenheit 451 Aus dem US-Amerikanischen von Peter Torberg
272 Seiten (Diogenes 2020)