«Scobie legte die Feder wieder aus der Hand; ihm gegenüber am Tisch sass die Einsamkeit. Kein Mann konnte einsamer sein als er, obwohl im Stockwerk über ihm seine Frau schlief und etwas mehr als fünfhundert Meter weiter seine Geliebte, und dennoch war es die Einsamkeit, die wie eine Freundin (…) bei ihm sass.»
Graham Greene (1904–1991) zählt zu den bedeutendsten englischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Seine Bücher waren weltweit so beliebt, dass er in London, Antibes, auf Capri und zuletzt in Vevey gut davon leben konnte. Dass er nie Literaturnobelpreis-Träger wurde, vergrösserte seinen Weltruhm noch.
Aus seinem Leben
In seinem Roman «Das Herz aller Dinge» von 1948 verarbeitete der englische Autor Graham Greene Ereignisse aus dem eigenen Leben: Wie sein Protagonist Scobie trat er für die Heirat mit seiner Frau zum Katholizismus über. Die Ehe zerbrach an Greenes zahlreichen Affären, wurde aber nie geschieden. Auch der Ort der Handlung, Westafrika, hat autobiografischen Bezug: Greene arbeitete im Zweiten Weltkrieg für den englischen Geheimdienst in Sierra Leone und Liberia.
In «Das Herz aller Dinge» wird Polizist Scobie zur Zeit des Zweiten Weltkriegs von der englischen Regierung nach Westafrika entsandt. Seine Frau Louise folgt ihm kurze Zeit später, doch in der neuen Heimat gefällt es ihr nicht, sie wird unglücklich und krank. Scobie plagen Schuldgefühle, er kommt sich vor wie ein Versager. «Wenn ich (…) nur ihr Glück absichern könnte, dachte er (…) und vergass für eine Weile, was die Erfahrung ihn gelehrt hatte – dass kein Mensch den anderen wirklich verstehen und niemand die Garantie für das Glück eines anderen übernehmen konnte.» Scobie will das Glück für Louise übernehmen und verschuldet sich, damit sie nach Südafrika reisen kann. In ihrer Abwesenheit lernt er die junge Helen Rolt kennen, die ein Schiffsunglück nur knapp überlebt hat. Scobie empfindet Mitleid für sie: «(Er) sollte nie vergessen, wie man sie in sein Leben trug – auf einer Krankentrage, die Augen fest geschlossen und ein Briefmarkenalbum umklammernd.» Die beiden verlieben sich ineinander. Von nun an verstrickt sich Scobie in Lügen und Heimlichkeiten. Vor lauter Schuldgefühlen verliert er den Glauben an das Leben und an Gott.
Tiefes Mitleid
Im Zentrum des Romans stehen Mitleid und Verantwortungsgefühl. Beide können so übermächtig werden, dass sie die menschliche Seele zermürben: «Müsste nicht jemand, der um alles weiss, was geschieht, der eingedrungen ist in das, was man das Herz aller Dinge nennt, sogar mit den Planeten Mitleid haben?», fragt sich Scobie angesichts der Erkenntnis, dass er die zwei Frauen, die er liebt, nicht glücklich machen kann. «Mitleid frass wie Fäulnis an seinem Herzen. (…) Er wusste aus Erfahrung, dass Leidenschaft starb und Liebe verging, aber das Mitleid blieb.»
Vielleicht verstärkte das eigene Erleben Greenes Fähigkeit, menschliche Gefühle und innere Zwiespälte derart treffend zu erzählen – mit so viel Einfühlsamkeit, dass auch der Leser zunehmend tiefes Mitleid empfinden muss.
Buch
Graham Greene
«Das Herz aller Dinge»
Deutsche Erstausgabe: 1948
Heute erhältlich bei dtv.