In seinen sechs Romanen erzählt US-Autor Kent Haruf (1943–2014) immer aufs Neue von den Bewohnern in der fiktiven Kleinstadt Holt in Colorado, von den Freuden und Sorgen ganz gewöhnlicher Menschen. Bekannt wurde sein Holt-Universum durch den mit Jane Fonda und Robert Redford verfilmten Bestseller «Unsere Seelen bei Nacht».
«Kostbare Tage», das kürzlich bei Diogenes in deutscher Übersetzung erschienen ist, hat Kent Haruf ein Jahr vor seinem Tod geschrieben. Im Mittelpunkt steht denn auch ein alter sterbender Mann: Dad Lewis blickt in seinem letzten Sommer auf sein Leben zurück – was ist ihm gelungen, wo hat er Schuld auf sich geladen? Insgesamt sind es beglückende Erinnerungen an seine 60 Jahre dauernde innige Ehe oder seine Arbeit in der eigenen Eisenwarenhandlung, die ihn mit Zufriedenheit erfüllte.
Kostbare Tage bis zum endgültigen Abschied
Aber je näher der Tod rückt, desto mehr suchen ihn auch die Geister der Vergangenheit heim: Sein Sohn Frank, dessen Homosexualität Dad Lewis nicht akzeptieren konnte und den er seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat. Seine längst verstorbenen Eltern, zu denen er eine schwierige Beziehung hatte. Oder ein ehemaliger Angestellter, den er nach einem Diebstahl rausgeworfen hat – mit fatalen Folgen. Der Sterbende lässt sich noch einmal durch Holt fahren, wo er sein ganzes Leben verbracht hat. Es bleibt ihm nur noch wenig Zeit, sich von seinen Liebsten zu verabschieden: «Kostbare Tage», wie der Titel unterstreicht.
Harufs Roman ist ein Buch voller Wehmut, aber auch voller menschlicher Wärme und Trost. Denn Dad Lewis wird liebevoll umsorgt von seiner Frau Mary und seiner Tochter Lorraine. Nach besten Kräften unterstützt werden die beiden von den Nachbarinnen: von der Witwe Willa und ihrer über 60-jährigen Tochter Alene, oder von Berta, die ihre Enkelin Alice nach dem Tod deren Mutter bei sich aufgenommen hat. Die achtjährige Alice bildet den Gegenpol zum sterbenden Dad Lewis – sie steht für das blühende Leben, lernt gerade Fahrradfahren und entdeckt die Welt.
Im Alltäglichen blitzen existenzielle Fragen auf
Diesen generationenübergreifenden Frauenbund zeichnet Kent Haruf mit liebevollem Blick: Ein Bild voller weiblicher Stärke ist etwa die Szene, in der die Frauen in der Sommerhitze mit dem Mädchen Alice in einem Rindertrog nackt baden und sich anschliessend – nur von den Kühen begafft – in der Sonne aufwärmen, Kräfte tanken für die kommende schwierige Zeit.
Solidarität und gegenseitige Fürsorge ist die eine Seite, Kent Haruf spart aber auch die Kehrseiten einer kleinstädtischen Gemeinschaft nicht aus, in der es Missgunst, Klatsch oder gar Gewalt gibt. So bringt der neue liberale Pfarrer Lyle etwa die konservativen Bewohner gegen sich auf, als er sich auf die Bergpredigt berufend kritisch gegenüber Nationalismus und Krieg äussert, den die USA gegen sogenannte Terroristenstaaten führen.
Kent Haruf, der als Pfarrerssohn in Colorado aufgewachsen ist, erzählt diese kleinstädtischen Geschichten mit grosser Ruhe und Gelassenheit. Und lässt im Alltäglichen existenzielle Fragen aufblitzen.
Buch
Kent Haruf
Kostbare Tage
Aus dem Amerikanischen von pociao und Roberto de Hollanda, 352 Seiten
(Diogenes 2020)