«Jeden Herbst
Komme ich
Neu zur Welt
Wenn ich leichten Herzens
In der Helle meines Septembers
Meine Traurigkeit verabschiede
Die wegzieht
Mit dem Flug der Vögel
Und Streifen zeichnet
Im weissen Band des Himmels
Herbst meine Jahreszeit
Fülle meine Augen
Mit deinem Licht.»
In ihrem Gedicht zeichnet Luisa Famos den Herbst als lichterfüllten Neubeginn, nicht wie gewohnt als Metapher für Abschied und Vergänglichkeit. Und doch sind all ihre Gedichte von Melancholie durchdrungen. Die Natur und das Leben im Einklang mit den Jahreszeiten sind wiederkehrende Motive der Bündner Poetin. Das warme Licht, das Rauschen der Lärchenwälder, die Schwalben, die pfeilschnell durch die Lüfte sausen, der kreisende Flug des Adlers, das Läuten der Kirchenglocken im Dorf – Luisa Famos’ sinnliche Gedichte tragen die Essenz des Engadins in sich.
Die 1930 geborene Schriftstellerin ist im Unterengadiner Dorf Ramosch aufgewachsen und hat in Graubünden und im Kanton Zürich als Primarlehrerin gearbeitet. Ein Jahr lang lebte sie in Paris und hat 1960 ihren ersten Gedichtband veröffentlicht. Zwei Jahre später wurde sie als Moderatorin der ersten rätoromanischen Fernsehsendung bekannt. Von 1969 bis 1972 lebte sie mit ihrem Mann und den beiden Kindern in Honduras und Venezuela. Als Luisa Famos an Krebs erkrankte, kehrte die Familie zurück, und die Dichterin starb – erst 44-jährig – in ihrem Geburtsort Ramosch.
Die Stationen ihres kurzen Lebens, ihr Denken und Fühlen bilden sich im zweisprachigen Lyrikband «Unterwegs – In Viadi» ab. Er vereint ihre beiden einzigen Gedichtsammlungen «Mumaints – Momente» und «Inscunters – Begegnungen» . So fängt sie etwa ihre Zeit in Zentral- und Südamerika in sinnlichen Lyrik-Skizzen ein. Vor dem inneren Auge lässt sie in wenigen Worten starke Bilder entstehen: die bedrückende «Bleisonne», der Duft der Orangenblüte, die Armut der Indios, der Dschungel, der flirrend grün in der Hitze lauert … Nebst der Natur ist die Liebe ein wiederkehrendes Motiv. In kraftvollen, aufs Wesentliche reduzierten Bildern beschreibt sie die Verbindung zu ihrem Geliebten oder zu Gott. Und mit berührenden Zeilen zum nahenden Tod, dem Bild des Todesengels, verabschiedet sie sich in ihren letzten Gedichten.
«Increschantüm» – ein Wort sagt vieles
Direkt oder indirekt präsent ist stets das klangvolle Wort «increschantüm», das sich mit Heimweh, aber auch mit Sehnsucht oder Wehmut übersetzen lässt, wie Luzius Keller in seinem Nachwort ausführt. Der emeritierte Romanistik-Professor hat Famos’ Gedichte mit Sorgfalt neu übersetzt. Die Sprachmelodie erklingt nun im Original im rätoromanischen Idiom Vallader sowie in der deutschen Übersetzung. Eine wunderbare Lektüre, wenn die Tage wieder kürzer werden – herausgegeben im Leinenband im dunklen Gelb, das an die Lärchenblätter der Engadiner Herbstwälder erinnert.
Buch
Luisa Famos
Unterwegs – In Viadi
Aus dem Rätoromanischen von Luzius Keller
144 Seiten
(Limmat 2019)