So tönte Hass vor 150 Jahren: «Ich weiss nicht, ob der alte Mistkerl noch lebt; sein Sohn tut es – er sei verflucht!» Zu dieser Erkenntnis kommt der Ich-Erzähler im Roman «Leben und Abenteuer von Jack Engle». Er beschreibt einen betrügerischen Rechtsanwalt, der Jack und seiner Freundin Martha das Erbe streitig machen will. Wie immer in solchen Fällen dauert es, bis die beiden dem Bösewicht auf die Schliche kommen. Aber die Gerechtigkeit wird siegen.
Ein Roman als Lohnarbeit
Wer bei dieser Ausgangslage an den englischen Schriftsteller Charles Dickens denkt, liegt richtig. Der vor 200 Jahren geborene Walt Whitman (1819–1892) hatte mit «Jack Engle» einen genretypischen Roman des 19. Jahrhunderts geschrieben, der einem indes bis heute nahegeht. Whitman verpackte die Handlung der Kriminal- und Liebesgeschichte in eine genaue Beschreibung der Stadt New York im 19. Jahrhundert, die damals noch keine globale Metropole war, sondern provinziellen Charakter hatte. Der Text erschien 1852 als Fortsetzungsroman in der Zeitung «Sunday Dispatch». Das Buch jedoch blieb 150 Jahre verschollen und ist zuerst auf Englisch und jetzt zum 200. Geburtstag des Autors auf Deutsch wieder erschienen.
Wahrscheinlich schrieb Whitman «Jack Engle» vor allem, um Geld zu verdienen, denn mit Lyrik lebte es sich schlecht. In seinem Epos «Grashalme» besingt er eine freiheitliche, der Natur verpflichtete Gesellschaft: «Das Leben, unermesslich an Leidenschaft, Puls und Kraft / Fröhlich, zur freiesten Tätigkeit gestaltet nach göttlichen Gesetzen …»
Whitman arbeitete in jungen Jahren wie Jack Engle in einer Anwaltskanzlei. Später übernahm er das väterliche Baugeschäft und wurde reich. Der Bürgerkrieg ruinierte ihn, aber er fand eine lukrative Stelle im Aussenministerium, wo er mit 54 Jahren einen Schlaganfall erlitt – und wiederum der Armut verfiel. Diese Fährnisse des Lebens sind typisch für das 19. Jahrhundert, als ein soziales Netz fehlte; Erfolg und Elend lagen nahe beieinander.
Von Dunkelmännern und lichten Frauengestalten
Der Leser findet auch im Roman über Jack Engle auf den ersten Seiten eine intakte bürgerliche Fassade in der betrügerischen Anwaltskanzlei, in der Jack seine erste Erfahrungen im Berufsleben macht. Nach und nach erschliessen Hinweise dem Leser, dass nicht alles mit rechten Dingen zugeht.
Mit den Dunkelmännern kontrastieren lichte Frauengestalten. Sie stehen für das Gute der Menschheit mit einer unverhüllten Erotik, etwa wenn die Schauspielerin Inez über sich selbst nachdenkt: «Ich fühle auch, dass ich niemals derart verworfen war und bin, dass ich nicht der Sympathie jener, die gut sind, wert gewesen wäre.» Für die Leserschaft des 19. Jahrhunderts bedeuteten solche Sätze, dass die Frau einst ein etwas liederliches Leben führte, aber auf den Pfad der Tugend zurückgefunden hatte. Tatsächlich entpuppt sich Inez als Retterin, als Jack und seine Martha in Not geraten. So bietet sich in den Widerwärtigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft immer wieder eine Rettung an, bevor es zum Schlimmsten kommt.
Buch
Walt Whitman
Leben und Abenteuer von Jack Engle
Aus dem Englischen von Jürgen Brôcan
(dtv 2019)