Das muss man sich vorstellen: Die napoleonischen Kriege ziehen über Europa. In Grossbritannien kommt es allerorts zu Aufständen, weil sich das Proletariat in den Städten die miesen Lebensbedingungen nicht mehr gefallen lässt. In dieser Zeit gewaltsamer Umwälzungen sitzt eine junge Frau in ihrem wohlbehüteten südenglischen Heim und schreibt vordergründig völlig unpolitische Beziehungsromane. Als ob ihr der Rest der Welt egal wäre.
Alles falsch.
Die Schriftstellerin Jane Austen (1775–1817) analysierte ihre gutbürgerliche Gesellschaftsschicht mit einem messerscharfen Verstand. Sie kannte alle hinter- und vordergründigen Abhängigkeiten und begriff wie keine Zweite, dass Geld die Liebe bestimmt.
Mit einer vorteilhaften Heirat die Zukunft sichern
Der Roman «Vernunft und Gefühl» ist zu Austens 200. Todestag nun neu übersetzt herausgekommen. Die Lektüre lohnt sich wegen der Beziehungsgeschichten, aber auch wegen der wunderbar flüssigen Übersetzung von Andrea Ott, die der deutschsprachigen Leserschaft nach und nach die englische Literatur des 19. Jahrhundert neu erschliesst.
Im Mittelpunkt des Romans stehen die beiden Schwestern Elinor und Marianne Dashwood. Beide wissen, dass ihnen nur eine vorteilhafte Heirat eine Zukunft in materieller Sicherheit verspricht. Beide verlieben sich zwar in vielversprechende junge Männer, aber der eine ist schon verlobt, der andere soll nach dem Willen seiner intriganten Mutter eine bessere Partie heiraten.
Elinor stellt ihre Gefühle hintenan und lässt sich von ihrem analytischen Verstand leiten. Marianne dagegen gibt ihren Emotionen nach. Dabei ist dem Leser nie ganz klar, welche Variante mehr Erfolg verspricht.
Elinor findet zwar ihr Glück, wird aber dennoch um ihr rechtmässiges Erbe betrogen, das ihr ein Leben in Selbständigkeit ermöglicht hätte. Erbschaften sind ein Kernthema der bürgerlichen Romanliteratur jener Zeit. Nicht nur bei der Vorviktorianerin Jane Austen, auch später bei Charles Dickens’ «Grosse Erwartungen» sind sie für die Protagonisten schicksalhaft. Jane Austen stellt die Erbschaftsfrage in den Mittelpunkt der Geschlechterfrage: Frauen sind von den Männern abhängig, aber mit List und Rücksichtslosigkeit können sie sich daraus befreien. Die ledig gebliebene Autorin hat genau begriffen, wie die bürgerlichen Besitzmechanismen ihrer Zeit spielten.
Unbestechlicher Einblick in damalige Gesellschaft
«Vernunft und Gefühl» ist 1811 erschienen mit dem Vermerk «By a Lady». Damals war es für Frauen unschicklich zu schreiben, und Austen wollte sich vor Kritik schützen. Zum Glück für die Nachwelt wagte sie diesen Schritt, denn sie bot einen unbestechlichen Einblick in die konservative Gesellschaft des ländlichen Englands zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Dort hatte alles – Napoleon hin oder her – scheinbar seine Ordnung. Man musste nur mit weiblicher Vernunft etwas nachhelfen und durfte sich nicht zu sehr von den Gefühlen lenken lassen.
Buch
Jane Austen
«Vernunft und Gefühl»
Erstausgabe: 1811
Neu erschienen bei Manesse Verlag 2017.