Die Bedingungen könnten nicht schlechter sein für die 17-jährige Victoria in Kent Harufs Roman: Als die Mutter von Victorias Schwangerschaft erfährt, wirft sie das Mädchen hochkant aus der Wohnung – und die 17-Jährige steht mutterseelenallein auf der Strasse. Auf sich selbst gestellt sind auch die beiden Schuljungen Ike und Bobby: Ihre Mutter liegt mit einer schweren Depression in einem abgedunkelten Zimmer, und ihr Vater ist mit der Situation überfordert.
Wider Erwarten enden diese beiden Schicksalsgeschichten aus dem ländlichen US-Bundesstaat Colorado dennoch nicht tragisch. Das ist dem beherzten Eingreifen der Lehrerin Maggie und zwei alten Bauern zu verdanken. Auf der Suche nach einem Zufluchtsort für die junge Schwangere wendet sich Maggie an die Brüder Harold und Raymond: Die beiden betreiben seit Jahrzehnten einen abgelegenen Hof mit Viehzucht. Die Landwirte wirken knurrig und rau, haben aber ein grosses Herz, wie sich herausstellen wird. Denn sie nehmen Victoria nach anfänglichem Zögern bei sich auf – auch wenn das Leben junger Frauen für sie ein Buch mit sieben Siegeln ist. Das führt zu manch komischen Dialogen zwischen Harold und Raymond. In rührender Sorge um Victorias Wohlergehen vergleichen sie die schwangere junge Frau etwa mit einer trächtigen Kuh.
Geschichten von leisem Witz durchdrungen
Auch Ike und Bobby landen schliesslich auf dem Hof des Brüderpaars. Nachdem sich die beiden Jungen lange um die Gunst ihrer depressiven Mutter bemüht haben, werden sie am Ende die Gewissheit haben, dass sie ihren Weg ohne sie weitergehen müssen.
Der Schriftsteller Kent Haruf (1943–2014) ist ausserhalb der USA vor allem durch seinen letzten Roman «Unsere Seelen bei Nacht» berühmt geworden, der mit Jane Fonda und Robert Redford verfilmt wurde. Auch aus dem 1999 erschienenen Buch «Lied der Weite», das nun bei Diogenes in neuer Übersetzung aufliegt, entstand eine Filmadaption.
Der US-amerikanische Autor lässt alle seine sechs Romane in der fiktiven Stadt Holt in seiner Heimat Colorado spielen. Die weite, landwirtschaftlich geprägte Prärie östlich der Rocky Mountains bildet den Hintergrund für seine melancholischen, in ruhigem Erzählton gehaltenen Geschichten, die von leisem Witz durchdrungen sind.
Die raue, von harter Arbeit geprägte Welt beschreibt er im Roman «Lied der Weite» unzimperlich bis ins letzte Detail, etwa wenn er von der Obduktion eines toten Pferdes erzählt. Dazwischen scheint in Harufs Geschichten aber tiefe Menschlichkeit durch. Aus wechselnder Perspektive begleiten die Leser die jungen Protagonisten genauso wie das alte Brüderpaar oder den Vater der beiden Schulbuben, der ebenfalls bei der Lehrerin Maggie Trost findet. Am Schluss leuchtet die Hoffnung auf – vielleicht sogar auf eine neue Familie, die Geborgenheit verspricht.
Buch
Kent Haruf
Lied der Weite
Dt. Erstausgabe: 2001 Übersetzt von
Rudolf Hermstein
384 Seiten
(Diogenes 2018)