Er nannte sie «Goldlöckchen». Denn sie «war im Sonnenlicht so blond wie ein Filmstar». Die Angebetete war kein Mädchen, sondern eine «Berglöwin». Und auch diese Etikette ist irreführend. Denn in den US-amerikanischen Rocky Mountains heissen die Pumas «Berglöwen» und gehören einer anderen Katzenfamilie an als die afrikanischen Löwen.
«Goldlöckchen» taucht im Roman «Die Berglöwin» schemenhaft auf und verschwindet gleich wieder, wie es sich für eine Katzenartige gehört. Das Tier steht für all das Unfassbare, das diesen Roman der US-amerikanischen Schriftstellerin Jean Stafford zu einem Leseerlebnis macht. Das Buch ist 1947 erschienen und gleich zu einem Bestseller geworden. Heute ist es ebenso wie die Autorin nahezu vergessen, ist jetzt aber in neuer deutschsprachiger Übersetzung erschienen.
Sie kennen kein Pardon gegenüber der Welt
Im Mittelpunkt stehen die beiden Kinder Ralph und Molly, die zu Beginn der Geschichte scheinbar unzertrennlich sind. Wer nun einen rührenden Entwicklungsroman mit all den Irrungen und Wirrungen Heranwachsender erwartet, sieht sich getäuscht. Ralph und Molly haben es faustdick hinter den Ohren und kennen kein Pardon gegenüber der Welt oder sich selbst. Besonders Molly ist unerbittlich: «Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie begonnen hatte, ihre Mutter zu hassen und (ihre Schwestern) Leah und Rachel. Was die Follansbees anging, die hatte sie natürlich schon gehasst, bevor sie geboren war …», sagt die Protagonistin Molly von sich. Zum Schluss des Romans hasst sie sogar ihren Bruder Ralph, weil dieser ihr gegenüber zu wenig Zuneigung zeigte: «Er empfand ihre Liebe nur als Mühsal und Last …» Der Showdown sei hier nicht verraten – er ist brutal.
Mollys Bruder Ralph ist etwas mitfühlender gegenüber seinen Mitmenschen. Zumal er Gefühle für seine Cousine Winifred entwickelt, die diese indes nicht erwidert. Auch Ralph eckt immer wieder an und kämpft um jedes Zeichen der Zuneigung. Die engstirnige Mutter hat auch er längst abgeschrieben. Molly und Ralph sind zwei ungeheuerliche Kinder im wörtlichen Sinn. Sie widersprechen allen gängigen Vorstellungen liebenswürdiger Kleiner.
Die Kalifornierin Jean Stafford (1915–1979) war zu ihrer Zeit eine angesehene Schriftstellerin. Besonders ihre Kurzgeschichten, viele im «New Yorker» veröffentlicht, fanden breiten Zuspruch. Die Autorin wurde mit dem Pulitzerpreis geehrt und genoss damals breite Anerkennung in literarischen Kreisen, auch wenn sie nie zur ersten Garde eines William Faulkner oder Ernest Hemingway gehörte. Stafford kam wie viele Autoren dieser Generation mit dem Leben schlecht zurecht. Sie verfiel immer wieder in Depressionen und trank zu viel; ihre drei Ehen wurden geschieden.
Mit kühler Distanz erzählt
Der Roman «Die Berglöwin» trägt autobiografische Züge. Mollys Kampf mit sich und der Welt hat Stafford selbst ausgetragen, wie der Mit-Übersetzer Jürgen Dormagen im Nachwort schreibt: «Die tiefe Fremdheit ihrer Mutter, ihr frühes Bewusstsein von Andersheit, der Schreibdrang …» waren die Attribute, die Stafford wie ihre Protagonistin Molly auszeichneten. Trotz dieser Nähe zur Romanfigur gelang es der Autorin, die berührende Geschichte von «Goldlöckchen» und den Menschen mit kühler Distanz zu erzählen, als ob die fiktionale Handlung nicht ihrer eigenen Fantasie entsprungen wäre.
Buch
Jean Stafford
Die Berglöwin
Aus dem US-Amerikanischen von Adelheid und Jürgen Dormagen
Heute erhältlich bei Dörlemann